Borussia Mönchengladbach überwintert in der Bundesliga auf Platz drei. Dabei deutet die Mannschaft bislang bloss an, wozu sie dereinst fähig sein könnte. Und einer wacht streng darüber, dass Spieler und Beobachter nicht vergessen, dass längst nicht alles Gold ist, was glänzt: der Schweizer Trainer Lucien Favre.
Lucien Favre ist ein Meister in der hohen Kunst, nie vollends zufrieden zu sein. Wie oft hat man den Schweizer Fussballlehrer diesen Herbst mit kritischer Miene in den Katakomben des Mönchengladbacher Stadions erlebt, während seine Eleven sich ausgiebig auf dem Rasen feiern liessen. Er sagt dann bittere Sätze in die Mikrofone, die ganz trocken mit den Schwächen seiner Mannschaft abrechnen. Irgendwas ist ja immer «särr, särr schlecht» und darum «nicht zu akzeptirren» gewesen.
Zum Beispiel diesen Sonntag, vor der Winterpause der Bundesliga. Da hat die Mannschaft gegen den bärenstarken VfL Wolfsburg ein 0:1 auf 2:1 gedreht, nutzt anschliessend gute Chancen nicht – und kassiert kurz vor Schluss noch den Ausgleich. So dass die Heimbilanz nun beinahe schon skandalös ist: Von 27 möglichen Punkten wurden am Borussia-Park gerade mal 25 eingefahren.
So ist das eben, wenn ein Fussballclub gerade Luxusprobleme hat.
Niemals über die kommende Aufgabe hinaus blicken
Der fünffache deutsche Meister und zweifache Uefa-Cup-Sieger vom Niederrhein knüpft zweieinhalb Jahre nach den Relegationsspielen um den Ligaverbleib gerade an bessere Zeiten an. Er ist nun ein relativ gesunder Bundesligist, der sich offiziell bloss zur oberen Tabellenhälfte hin orientiert. De facto sieht es jedoch so aus, als könne er bald wieder einem europäischen Wettbewerb teilnehmen.
Fokussiert bleiben, niemals über die nächste Aufgabe hinaus denken: Das ist der neue, vom Cheftrainer aus dem Kanton Waadt beeinflusste Stil, in dem die Gladbacher sich auf den vierten Tabellenlatz vorgewagt haben. Und allmählich beginnen Beobachter zu ahnen, dass sich hier Nachhaltiges entwickeln könnte: Eine gewisse Art, Fussball zu spielen, die gerade oft genug funktioniert, um sie bei den Kruse, Xhaka & Co. in Umrissen zu erkennen.
Borussia ist nicht Bayern, das wurde zum Saisonauftakt klar. Ein paar Konzentrationslücken reichten, um in München 1:3 zu verlieren. Alles noch im Rahmen, weil es danach immer passte im Borussia-Park. Bis Oktober wurden die Gäste aus Hannover (3:0), Bremen (4:1) und Braunschweig (4:1) klar distanziert.
Den Teambus stehen lassen – für eine bessere Öko-Bilanz
Auswärts dagegen schoss Borussia weiter Fahrkarten: 2:4 in Leverkusen, 1:2 in Hoffenheim. Vielleicht sollte man den Teambus gleich abbestellen, wurde im Presseraum gewitzelt, damit wenigstens die Öko-Bilanz verbessert wird. Kurz danach ergatterten die «Fohlen» ein Pünktchen in Augsburg, verloren unglücklich mit 0:1 in Berlin – und stiessen den Bock Anfang November, beim 2:0 in Hamburg um.
Es war der 56. Geburtstag des Trainers, der minutenlang gelächelt haben soll, und tatsächlich eine Trendumkehr. Zwei Wochen später überzeugte Favres Team in Stuttgart mit dem gleichen Resultat, Mitte Dezember spielten sie in Mainz 0:0. Was bis Weihnachten inklusive weiterer Heimsiege eine hübsche Momentaufnahme ergibt: neun Partien in Folge ungeschlagen, insgesamt 33 Punkte und den 3. Tabellenplatz erkämpft.
Damit schliesst sich ein gefühlter Kreis. Als die Gladbacher zum Februar 2011 Schalke 04 empfingen, waren sie Aussenseiter in grösster Not. In der Hinrunde hatten sie neun Punkte geholt, jeder handelte sie als ausgemachte Absteiger. Dann kamen Favre, Innenverteidiger Stranzl und noch ein paar mehr, und die Blau-Weissen wurden 2:1 besiegt. Anfang Dezember hat der VfL mit dem gleichen Resultat gewonnen, ohne dass es irgendwen noch überrascht. Weil jeder sehen kann, dass die Mannschaft im Unterschied zur Vorsaison über eine phasenweise richtig kreative Spielkultur verfügt.
Der Jubel mit Jupp
«Juhu, Favre! So jut wie junger Jupp», dichtete der «Express» neulich – eine rheinisch gefärbte Anspielung darauf, dass die Profis mit der Raute auf der Brust seit den 80er Jahren, als ein gewisser Heynckes Chefcoach war, nicht mehr so fleissig gepunktet haben. Um so mehr braucht es dann einen Hochgelobten, der nicht vergisst, wie eng Glanz und Elend in diesen Monaten beieinander lagen.
«Wir müssen noch viel lernen», wurde Favre umgehend zitiert – und festigte so seinen Ruf als erbarmungsloser Realist, der fast immer richtig liegt.
So wie in diesen Monaten. Die Leistung seiner Combo war etwa in der ersten Halbzeit gegen Borussia Dortmund tatsächlich «ein Katastroff», bevor ihr mit einer Steigerung im zweiten Abschnitt zwei glückliche Tore zufielen. Sie hatte ausserdem Dusel, dass sie gegen den 1. FC Nürnberg nach 45 Minuten nur 0:1 zurücklag, bevor die Partie auf 3:1 gedreht wurde. Nicht zu reden von den prekären Momenten im Spiel gegen die gut organisierten Freiburger (1:0) oder die vom Unparteiischen dezimierten Schalker.
Strukturen im Spiel
Am Ende sind es darum weniger Zahlen und Ergebnisse, die Hoffnung aufkommen lassen – sondern die Strukturen im Spiel, die sich inzwischen meist positiv entwickelt haben.
- Mit der raschen Integration von Max Kruse und Raffael verfügt Borussia über spürbar mehr Qualität im Offensivspiel als zuvor. Es gibt mehr Varianten, mehr Tempo und eher eine rotierende Scheibe vorm gegnerischen Strafraum als eine echte Spitze.
- Die Aussenbahnen sind je nach Tagesform durchschnittlich bis fulminant besetzt. Der Venezolaner Arango ist Artist für die besonderen Momente im Spiel, aber nicht emsigster Gegenpresser. Und Patrick Herrmann muss noch zeigen, dass er der Mannschaft nicht nur im Konterspiel helfen kann.
- Mit dem Basler Granit Xhaka und Christoph Kramer hat sich ein neues, lauffreudiges Sechser-Paar im defensiven Mittelfeld etabliert. Es schaltet schneller um, als das zuvor gelang. Schwachstelle bei Xhaka: Der Halbstarke legt sich zu gerne mit Gegnern und Schiedsrichtern an.
- Die Innenverteidigung wirkt wie ein Tresor, solange Martin Stranzl dort spielt. Grandios, wie sich um den 33-jährigen herum alle anderen steigern. Auch Tony Jantschke ist nach der Verletzung von Dominguez von einem passablen Innenverteidiger kaum noch zu unterscheiden.
- Auf der rechten Abwehrseite stand Jantschke davor solide, wenn auch etwas tief. Ganz anders Oscar Wendt, der sich über links oft ins Spiel einschaltet – um dann häufiger mal zu vergessen, wie er sich defensiv genau orientieren muss.
- Im Tor hält die Mannschaft kein ordinärer Keeper, sondern ein Mini-Titan namens Marc-André ter Stegen im Spiel, der Gerüchten zufolge längst nach Barcelona gewechselt ist. Auch egal, solange sein geklonter Doppelgänger so gut hält wie bisher …
In der Summe ergibt das im Vergleich zur Vorsaison mehr Drive, mehr Möglichkeiten. Aber auch neue Probleme, die man länger nicht erlebt hat: Gegner, die nur die Räume eng machen und auf Konter spekulieren. Es ist ein Opportunisten-Fussball, wie ihn Borussia zuvor selbst oft praktizierte – weil sie (noch) nicht stark genug war, das Spiel zu kontrollieren.
Mit Kruse, Raffael, Arango und Herrmann ist eine Offensivmaschine am Werk, die in rasanter Taktung Chancen ausspuckt. Selbst die «Süddeutsche Zeitung» spricht nicht länger von einem ordinären Mannschaftsteil, sondern von einem «Ensemble». Was bleibt der Mannschaft nach dem frühen Aus im DFB-Pokal (beim Viertligisten Darmstadt 98) auch übrig, als immer weiter die Liga-Partien zu dominieren?
Es droht die europäische Gefahr
Einfach nur Bundesliga, und sonst nichts: Sicher hat auch das mit dazu beigetragen, dass hier und jetzt eine neue Konjunktur der Spielfreude zu erleben ist. Die Zahl der Verletzten liegt deutlich unter den Alarmständen auf Schalke, in Dortmund und anderswo. Da ist es fast schon Ironie des Schicksals, dass im nächsten Jahr eine gefährliche Beförderung droht: Man wird dann wohl nicht umhin können, wieder europäisch zu spielen.
Der allzeit kritische Mann aus Saint-Barthélemy, der einen gewissen Anteil daran hat, wird sich damit allerdings noch nicht befassen. Und das gilt auch für seine Schützlinge, die er Woche für Woche etwas besser machen möchte. Nach jedem Match servieren sie den bedauernswerten Reportern in der engen Interviewzone den gleichen Satz: «Wir schauen nur von Spiel zu Spiel.»
Nicht sehr unterhaltsam, zugegeben – aber es funktioniert.
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