Mexiko: Wo Fans über Spielerwechsel abstimmen

Der ­Trainer von ­Murcielagos weiss, wie viele Leben er hat – theoretisch.

(Bild: Screenshot)

Der ­Trainer von ­Murcielagos weiss, wie viele Leben er hat – theoretisch.

Es läuft die 71. Minute der Begegnung zwischen dem Murcielagos FC und Estudiantes Tecos, als sich eine klare Mehrheit von 67 Prozent der Abstimmenden dafür entscheidet, beim Heimteam eine Auswechslung vorzunehmen. Sieben Minuten später kommt der Spieler Cupa aufs Feld, für dessen Einwechslung sich satte 80 Prozent der Stimmberechtigten ausgesprochen haben. Murcielagos gewinnt die Partie am Ende 3:1, die Trainergemeinschaft an den Computern darf sich selbst auf die Schulter klopfen.

In der dritthöchsten Spielklasse Mexikos scheinen die Träume aller verhinderten Cheftrainer dieser Erde Realität zu werden. Hier entscheiden die Anhänger per Mausklick über die Aufstellung, über Auswechslungen – und darüber, ob die Pausenansprache des Trainers Sinn gemacht hat.

«DT electronico», elektronischer Trainer, nennt der Club sein System der demokratischen Abstimmungen, das bislang kostenlos für alle Menschen weltweit zugänglich ist. Das Brüderpaar Miguel und Elias Favela, das den Club besitzt, ist von der Idee dermassen überzeugt, dass es den «DT electronico» hat schützen lassen. Seit 2008 schon werden dem jeweiligen Trainer Entscheidungen von der Internet-Gemeinschaft vorgegeben.

Mit dem elektronischen Trainer soll es ganz nach oben gehen

Dem sportlichen Erfolg scheint diese Form der Mitbestimmung bislang nicht geschadet zu haben. Die Aptertura 2012 hat Murcielagos gewonnen. In diesem Jahr peilt der Club aus der Kleinstadt ­Guamuchil den Aufstieg in die zweithöchste Liga an. Spätestens mittelfristig soll es ganz nach oben gehen.

Allerdings ist Murcielagos bei Weitem nicht so basisdemokratisch organisiert, wie es auf den ersten Blick scheint. Ein wenig ist der «DT electronico» nämlich ein Etikettenschwindel: Die Fans können nicht von sich aus aktiv werden, sie beantworten bloss Fragen, die ihnen während des Livestreams der Heimspiele gestellt werden.

So wie gegen Estudiantes Tecos, als sie sich zwischen zwei vorgegebenen Einwechselspielern entscheiden durften – nicht aber darüber, ob nun ein Stürmer für einen Verteidiger kommen soll. Bei Auswärtspartien gibt es keine Direktübertragung und damit gar keine Mitsprache.

Trotzdem muss der Trainer damit leben, dass er nicht der alleinige Entscheidungsträger in sportlichen Belangen ist. Und auch damit, dass alle Interessierten seine Pausenansprache live und in Farbe verfolgen können. Ausserdem darf es ihn nicht stören, dass für jedermann sichtbar ist, ob sein Stuhl gerade wackelt. Für ­Siege und Pausenansprachen, die den Fans gefallen, erhält der Trainer Punkte, «vidas» genannt, Leben. Sinkt er auf null, ist Feierabend.

Derzeit scheint Lorenzo «Rocky» ­Lopez mit 32 Leben sicher im Sattel zu sitzen. Aber ganz so einfach ist es eben doch nicht als Trainer bei Murcielagos. Der letzte DT, Roberto «Gato» Sandoval, wurde Anfang Februar abrupt entlassen. In der offiziellen Mitteilung des Vereins hiess es, er habe gegen einen nicht näher erläuterten «Anhang 2» des «DT electronico» verstossen. Laut Online-Wertung hätte die «Katze» Sandoval noch weit mehr als sieben Leben gehabt – 19, um genau zu sein.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 15.03.13

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