Vor der offiziellen Eröffnung der Sommerspiele in Rio de Janeiro am Freitag geht es im Fussball bereits los. Für Brasilien ist ein zweiter Platz an einem Turnier weniger als nichts. Deshalb lastet der Druck in ihrem Heimatland auf Neymar und seinem weiblichen Pendant Marta.
Anflug über Christusstatue, Maracanã und das Meer auf den Stadtflughafen Santos Dumont, und am Gepäckband gleich die erste Überraschung: Nicht Neymar grüsst vom Werbeplakat quer durch die Empfangshalle. Sondern Marta.
Soweit klappt es also ganz gut mit der Arbeitsteilung. Marta hat ja angeboten, ihrem männlichen Kollegen ein bisschen Druck abzunehmen. «Es hilft, wenn die Verantwortung nicht nur auf einem liegt», erklärte Brasiliens fünffache Weltfussballerin, die am Mittwoch mit der Partie gegen China ins olympische Turnier einsteigt. Am Donnerstag folgt dann Neymar im Spiel gegen Südafrika. Und zumindest einer von beiden sollte es richten. Muss es richten.
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Die 30-jährige Marta Vieira da Silva (links) mit ihrer Teamkollegin Fabiana.
Es geht schliesslich um Brasilien, es geht um Fussball und es geht um Erlösung. Nach wie vor wartet die Nation auf das erste Olympiagold in ihrem Paradesport. Dreimal Silber und zweimal Bronze holten die Männer, zuletzt in London verlor eine Startruppe mit Neymar, Thiago Silva, Marcelo und Hulk das Finale gegen Mexiko. Zweimal Silber errangen die Frauen, sie unterlagen 2004 und 2008 jeweils in der Verlängerung den USA. «In Brasilien ist der zweite Platz weniger als nichts», hat Marta daraus gelernt. Bei den Olympischen Spielen im eigenen Land gilt das natürlich doppelt und dreifach.
Der Trainer, der eigentlich gar nicht vorgesehen war
Den Männern wird zwei Jahre nach der epochalen 1:7-Pleite an der Weltmeisterschaft in Belo Horizonte gegen Deutschland erst recht kein Raum für weiteres Versagen zugestanden. Die Fans, die dem deutschen Besucher auf der Strasse nach wie vor für die «notwendige Lektion» danken, erwarten, dass Brasiliens morscher Fussball aus seiner Stunde Null gelernt hat. 2014 bei der Heim-WM gewann er ja nur in zwei Nebenkategorien: Er verübte die meisten Fouls und vergoss die meisten Tränen.
Das Frauenteam kostet im Jahr weniger als Neymar im Monat. Viel mehr muss man nicht wissen, um den Stellenwert von Männer- und Frauenfussball einschätzen zu können.
Die emotional-patriotische Tour von Nationaltrainer Luiz Felipe Scolari führte zu psychischer Überforderung und denkwürdigen Heulexzessen schon beim Absingen der Nationalhymne. Insofern kann es wohl nicht schaden, dass Olympiacoach Rogério Micale eher technokratisch daherkommt. An sich war er für den Posten nicht einmal vorgesehen. Der langjährige Nachwuchsausbildner wurde angeheuert, um die Equipe vorzubereiten und dann an A-Trainer Carlos Dunga zu übergeben. Nachdem dieser wegen des Gruppen-Aus bei der Copa América gefeuert wurde, beliess sein Nachfolger Tite das Projekt bei Micale.
«Jeden Tag ein 1:7»
Im letzten Vorbereitungskick gab es ein 2:0 gegen Japan und von den Fans danach Applaus – alles andere als eine Selbstverständlichkeit zuletzt. Der 24-jährige Neymar übertrieb es bisweilen mit seinen Soli. Doch die brasilianische Presse betont freudig, dass er seine (Party-)Flausen in Barcelona gelassen habe und ein inspirierender Kapitän sei. Am Samstag versammelte er nach Verletzung und Olympia-Aus des beliebten Torwarts Fernando Prass die Mannschaft in der Kabine zur Therapiesitzung und schwor sie darauf ein, nun erst recht Gold zu gewinnen.
Er erinnerte dabei auch an seine eigene Verletzung im WM-Viertelfinal gegen Kolumbien, die ja irgendwo der Anfang des Desasters gegen Deutschland war, das längst Eingang in die brasilianische Alltagsfolklore gefunden hat. «Jeden Tag ein 1:7», lautet ein geflügelter Satz inmitten der politischen, wirtschaftlichen und moralischen Krise des Landes, die auch kurz vor Olympia die Nachrichten dominiert. Immer waren die Brasilianer dafür bekannt, trotz aller Widrigkeiten an ihre Nation zu glauben – immer schwerer fällt es ihnen. In Belo Horizonte lieferte der Fussball das Symbol für diesen Abstieg. In den nächsten zwei Wochen soll er nun für die Katharsis sorgen.
In Rio geht es für Neymars Brasilien um die nationale Ehre. (Bild: Keystone/FERNANDO BIZERRA JR.)
Je schwerer sich das Land mit sich selbst tut, desto interessanter werden die wenigen Projektionsflächen, die noch die alte Illusion von Kunst und Leichtigkeit nähren. Wie der Trickfussballer Neymar, wie die begnadete Marta, zweifelsohne die technisch beste und kreativste Spielerin der Geschichte des Frauenfussballs. Und während bei Neymar immer wieder debattiert wird, ob er vielleicht mal die Grösse von Pelé erreichen kann, ist es bei Marta ganz einfach: Sie hat Pelé schon übertroffen, jedenfalls statistisch – bei 103 Toren im Nationaltrikot. «O Rei» kam während seiner Karriere auf 95.
Den Männern droht ein Spiel am Ort der Schmach
Bei Pelés altem Klub Santos spielte sie einst gleichzeitig mit Neymar. Doch dann lockten europäische Vereine den Wunderknaben, der Verein musste ihm das Gehalt aufstocken – und kappte dafür sein Frauenteam. Obwohl dieses für ein ganzes Jahr kaum mehr kostete als Neymar im Monat. Viel mehr muss man nicht wissen, um den Stellenwert von Männer- und Frauenfussball in Brasilien einschätzen zu können.
Nur bei Olympia sitzen beide ansatzweise im selben Boot, denn es geht ja um die nationale Ehre. Bei der Jagd nach dem ersten Gold müssen die Frauen unter anderem mit Weltmeister USA und Deutschland rechnen, starten aber immerhin aus der Pole Position: Sie treten immer einen Tag früher auf. Für das Viertelfinal wird ihnen sogar ein Auftritt in Belo Horizonte zugetraut.
Die Männer hingegen müssten nur in einem Fall zurück an den Ort der Schmach – wenn sie das Spiel um Platz drei erreichen. Aber dann wäre ja sowieso schon wieder alles verloren.