Nichts zwischen mir und dem Berg

Es gibt mehr Gründe, auf einen Berg zu steigen, als nur den, wieder herunterzukommen.

(Bild: Patric Sandri)

Es gibt mehr Gründe, auf einen Berg zu steigen, als nur den, wieder herunterzukommen.

Ueli Steck

Ich gebe gerne zu, dass sich schon weit schlauere Menschen als ich mit der Frage nach dem Sinn des Lebens befasst haben. Schlauere Menschen als ich und, mit Verlaub, auch ge­wichtigere Publikationen als die ­TagesWoche. Und: Zu welchem Resultat sind sie gelangt?

Da bin ich eigentlich dankbar, dass ich keine generelle Antwort geben soll, sondern dass die Fragestellung eingeschränkt wird nach dem Sinn eines individuellen Lebens, konkret also eines Lebens, wie ich es nun seit bald zwanzig Jahren als hauptberuflicher Bergsteiger führe.

Ohne Nutzen

Um schon von Anfang an keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich weiss, dass das Bergsteigen die Welt nicht weiterbringt, ich weiss, dass es keine oder nur eine ganz marginale Wertschöpfung hat – materielle Wertschöpfung meine ich – ich weiss, dass das Bergsteigen keinen Nutzen hat.

Ich sage ausdrücklich Nutzen und nicht Sinn, auch wenn Leute, die weit weg sind von Natur und von Sport, durchaus der Meinung sein mögen, es habe doch keinen Sinn, auf einen Berg zu steigen, nur damit man wieder runterkommt, schon gar nicht auf möglichst schwierigen Routen. Da widerspreche ich: Das Bergsteigen, eigentlich jede Tätigkeit, hat zumindest jenen Sinn, den derjenige der Tätigkeit gibt, der sie ausübt.

Für mich ist das Bergsteigen seit bald zwanzig Jahren mein Beruf. Als Jugendlicher hatte ich natürlich nicht in der Absicht zu klettern begonnen, dass ich irgendwann einmal vor Publikum auf einer Bühne stehe und über meine Besteigungen rede oder dass ich Bücher schreibe über meine Projekte und Expeditionen oder dass Firmen mich dafür bezahlen, dass ich ihre Ausrüstung trage und ihnen dabei helfe, ihre Produkte zu optimieren.

Ich hatte eine Ausbildung zum Zimmermann absolviert. Da brauchte ich gelegentlich schon eine Portion Durchhaltewillen, weil ich ja lieber an Felsen geklettert wäre als auf Dachbalken. Aber ich mochte die Arbeit als Zimmermann, selbst wenn es da oft genügte, die Arbeit einfach gut zu machen. Da sehe ich einen grossen Unterschied zu meinem heutigen Beruf: In den Bergen reicht das «gut machen» nicht aus; ich denke, dass dies für mich ein grosser Reiz ist. Ausserdem bin ich sozusagen ein Kontrollfreak, das heisst: Ich will nicht einfach irgendwie durchkommen; ich will meine Touren in Fels und Eis wirklich im Griff haben, ich will das, was ich tue, unter absoluter Kontrolle haben.

Auch Bergwandern ist gefährlich

Mir muss niemand erklären, dass Bergsteigen gefährlich ist; jede Form des Bergsports ist gefährlich, auch das Bergwandern, wie die alljährlich publizierten Unfallzahlen im Detail belegen. Wer das nicht wahrhaben will, sollte besser zu Hause bleiben.

Bergsteigen bedeutet für mich, dass ich mir einen der geplanten Tour gemässen Rucksack packe, in die Natur hinaus gehe und mich ihr aussetze. Je unmittelbarer ich ihr begegne, desto näher komme ich ihr. Ich will nichts zwischen mich und die Natur schalten. Ich mag das Einfache; je einfacher ich einem Berg entgegentrete, desto grösser ist für mich das Erlebnis.

Das Einfache suchen und schwierige Routen begehen, das ist nur ein scheinbarer Widerspruch. Das will ich zu erklären versuchen mit der Phase, in der ich sogenannte Free Solos kletterte. Free Solo bedeutet, alleine zu klettern ohne jede Sicherungsmöglichkeit.

Nach der Begehung der Route Excalibur an den Wendenstöcken bin ich erstmals über die Bergsteiger-Szene hinaus wahrgenommen worden. Free Solo ist für mich die reinste Form des Bergsteigens; das Erlebnis ist nie intensiver, in dieser 300 Meter hohen Route gab es nur den nächsten Griff und mich, da lebte ich Sekunde um Sekunde; alles, was je passiert war, war weg, und alles, was je kommen würde oder kommen könnte, war ohnehin ausgeblendet.

Für die Menschheit hat dieses Free Solo nichts bewirkt, aber für mich schon. Es war schön, etwas geschafft zu haben, das ich unbedingt wollte, und zwar in jenem Stil, der mich damals so fasziniert hatte. Ich hatte mich einer selbst gewählten Herausforderung gestellt. Ich brauche solche Herausforderungen, ich wäre kein glücklicher Mensch, wenn sich Langeweile in mein Leben schleichen würde.

Mit dem Wunsch, nichts zwischen mich und den Berg zu stellen, begründe ich auch meinen Verzicht auf Flaschensauerstoff an den Achttausendern. Ich kritisiere niemanden, der mit Flaschensauerstoff auf den Mount Everest steigt. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, diese Bergsteiger sind dabei, sich fast ein wenig selber zu betrügen.

Näher am Gipfel

Für mich persönlich fällt der Gebrauch von Flaschensauerstoff in den Bereich Doping. Als ich bei meinem ersten Everest-Versuch auf 8700 Metern, nur 150 Meter unter dem Gipfel, wegen kalter Füsse umkehrte, da war ich wahrscheinlich dem Gipfel viel näher als jene, die mit zusätzlichem Sauerstoff den Gipfel erreichten. Dass ich ein Jahr später doch noch auf dem Gipfel stand, war ungemein befriedigend – wahrscheinlich deshalb, weil ich sehr viel in dieses Projekt habe investieren müssen und mir der Erfolg nicht einfach so zugefallen ist.

Bei der Frage nach dem Sinn des Lebens scheint mir die Frage nach dem Glück im Leben nicht weit weg zu sein. Ich hatte das Glück, als Jugendlicher ein talentierter Kletterer zu sein, hatte das Glück, meine Passion zu einem Beruf machen zu können, bin glücklich während und nach einer Tour und schätze es auch, das eher kleine Glück erkennen zu können. Dieses kleine Glück kann etwa in einem Sonnenuntergang liegen oder in einem Eiszapfen, in dem das Licht sich bricht.

Natürlich hat es sich nicht einfach so ergeben, dass ich in ein Leben als Bergsteiger hineingestolpert bin, da hab ich schon nachgeholfen, als die Voraussetzungen einmal gegeben waren. Für mich ist es schlicht das perfekte Leben. Das ist vielleicht sogar allgemein der Sinn des Lebens: etwas zu finden, hinter dem du stehst, etwas zu finden, das dir Freude macht.

Auch Fussball hat keinen Sinn

Ich finde es absolut legitim, dass es Dinge gibt, die Freude machen. Fussball an sich etwa hat ja auch keinen tieferen Sinn, und trotzdem können sich die Leute daran begeistern. Ich sagte «legitim», ich finde es sogar «zwingend», dass man sich freuen kann, dass man sich freut; das Leben an sich muss Freude machen.

Die Chance «Leben» sollten wir uns nicht entgehen lassen. Und natürlich gehört der Tod dazu; ein Leben ohne Tod stelle ich mir langweilig vor, man würde alles vor sich her schieben, würde den Tag, die Stunde, den Moment nicht geniessen. Aber ganz klar sollten wir dem Leben mehr Aufmerksamkeit schenken als dem Tod. Das Leben muss man in die Hand nehmen, der Tod kommt dann schon von selbst.

Ich versuche lieber, hier auf Erden so etwas wie den Himmel zu erreichen, als ihn irgendwann später mal geschenkt zu bekommen, denn ich glaube, dass wir wirklich tot sind, wenn wir tot sind.

Ich weiss, dass wir Bergsteiger gefährlich leben, gefährlicher als jene Menschen, die vor dem Fernseher sitzen, dafür ist auch unser Erlebnis ein ganz anderes. Vielleicht schätzen viele Betrachter unsere Tätigkeit auch nicht ganz richtig ein. Sie versetzen sich selbst in die Wände, in denen wir uns bewegen, und finden dann, wir seien doch «Spinnsieche». Ich begreife, dass Menschen nicht verstehen, was wir da tun, ich habe auch überhaupt nicht den Anspruch, dass man unseren Sport verstehen muss. Aber zumindest hoffe ich, dass ich für mein Publikum sichtbar machen kann, welchen Wert das Bergsteigen hat. Wenigstens für mich hat.

Einen Zehnjahresplan für mein Leben mache ich nicht. Ich habe als Bergsteiger schon noch das eine oder andere ehrgeizige Projekt. Im Moment aber ist auch der Bau unseres Hauses für mich und meine Frau sehr, sehr wichtig. Für mich unter anderem auch deshalb, weil ich da selbst Hand anlegen kann – ich bin ja schliesslich ausgebildeter Zimmermann.

Ueli Steck (36) kam im Emmental zur Welt. Als Jugendlicher spielte er zunächst Eishockey, fing danach an zu klettern und gab seinen Beruf als Zimmermann zugunsten einer Bergsteigerkarriere auf. Mit 18 Jahren durchstieg er zum ersten Mal die Eigernordwand. Einem breiteren Publikum wurde er durch seine Soloklettereien, durch seine Speed-Begehungen der drei grossen Nordwände der Alpen und seine Himalaya-Erfolge ein Begriff. Unter anderem wurde er für eine Rettungsaktion im Himalaya mit dem Prix Courage ausgezeichnet. Ueli Steck ist verheiratet und lebt am Brienzersee.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 28.12.12

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