Rotweissrote Glückseligkeit: Österreichs Nationalteam qualifiziert sich erstmals aus eigener Kraft für eine Endrunde der Europameisterschaft, und mittendrin wird ein Schweizer gefeiert. Marcel Koller, anfangs mit viel Skepsis empfangen, wird nun auch öffentlich Abbitte geleistet. Und der Zürcher verblüfft die Fussballfreunde in der Alpenrepublik als Feierbiest.
Führt Österreichs Nationalmannschaft erstmals aus eigener Kraft an eine EM-Endrunde: Marcel Koller, hier von den nach Schweden mitgereisten Fans in der Friends Arena von Solna gefeiert.
(Bild: Keystone/ROBERT JAEGER)Auch aus schwierigen Winkeln treffen die Österreicher: Martin Harnik (Nummer 11) bei einem seiner zwei Tore in Stockholm.
(Bild: Keystone/JONAS EKSTROEMER)Grandioser Auswärtssieg: Die Österreicher feiern und mittendrin der Ex-Basler Aleksandar Dragovic.
(Bild: Keystone/ROBERT JAEGER)Wirksame Abwehrarbeit: Der Ex-Basler Aleksandar Dragovic gegen Schwedens Superstar Zlatan Ibrahimovic.
(Bild: Keystone/MAJA SUSLIN)Einer der Trümpfe in Marcel Kollers Spiel: David Alaba vom FC Bayern München, der auch in Solna sicherer Elfmeterschütze war.
(Bild: Keystone/ROBERT JAEGER)Frohlockendes Österreich, gedemütigtes Schweden – 4:1 gewann Marcel Kollers Auswahl auch in der Friends Arena von Solna bei Stockholm.
(Bild: Reuters/Jonas Ekstromer)Sternstunde in Solna: Die österreichischen Spieler bejubeln vor ihren mitgereisten Fans das wegweisende Elfmetertor von David Alaba.
(Bild: Reuters/Jessica Gow)Die Losung heisst: Wir kommen. Österreichs Auswahlspieler feiern in Solna mit ihren Fans.
(Bild: Reuters/Maja Suslin)Rotweissrote Glückseligkeit.
(Bild: Reuters/Maja Suslin)Österreich trägt Marcel Koller auf Händen: Der Zürcher ist der Vater des Aufschwungs.
(Bild: Reuters/Maja Suslin)Für einen kurzen Moment musste Marcel Koller an diesem Feierabend dann doch noch richtig zittern. Die Schlacht war längst geschlagen, Schweden besiegt und die historische EM-Qualifikation in trockenen Tüchern, als der Trainer der österreichischen Nationalmannschaft im Rausch der Glücksgefühle den Boden unter den Füssen verlor. Der Schweizer wurde ein Spielball seiner aufgedrehten Teamspieler, die ihren Vorgesetzten dermassen wild durch die Luft schleuderten, dass einem um Kollers Wohl fast schon Angst und Bange werden musste.
Aber wie oft gewinnt eine österreichische Fussball-Nationalmannschaft auch schon in Stockholm mit 4:1? Vor allem aber: wie oft qualifiziert sich ein rotweissrotes Team schon einmal für eine Europameisterschaft, und dann auch noch so eindrucksvoll als Gruppensieger? «Das ist einfach Wahnsinn, was wir alle gemeinsam geleistet haben», jubelte Koller nach dem Meisterstück gegen die Schweden, mit dem Österreichs Nationalteam erstmals in der Fussballgeschichte aus eigener Kraft die Teilnahme an einer EM fixieren konnte. Und damit ein Land in Ausnahmezustand versetzte.
Die Szenen, die sich nach dem Schlusspfiff in der Friends-Arena von Stockholm abspielten, kannte man in dieser Form bislang nur von Premierenfeiern an der Wiener Staatsoper. Dort werden die Hauptdarsteller nach gelungenen Auftritten traditionell vom Publikum vor den Vorhang gebeten. In Stockholm mussten nun die umjubelten österreichischen Teamspieler immer wieder von der Kabine zurück ins Stadion, wo die 2000 mitgereisten österreichischen Fans noch eine Stunde nach dem Schlusspfiff ihre Lieblinge feierten.
Und mittendrin in dieser Jubeltraube stand Marcel Koller, den man noch nie so ausgelassen und aufgekratzt sah, wie in den Stunden des historischen Triumphs. Am Flughafen von Stockholm verteilte der 54-Jährige munter Schweizer Schokolade, auf dem Rückflug nach Wien, wo die Mannschaft um vier Uhr früh von hunderten Anhängern empfangen wurde, führte Koller die Polonaise an, und bei der Pressekonferenz am Tag danach trug der Schweizer demonstrativ eine französische Mütze auf dem Kopf und verspeiste am Podium ein Baguette. Diese euphorische Seite des Teamchefs hatte man bisher noch nie zu Gesicht bekommen.
Prohaskas Abbitte vor laufender Kamera
Aber Marcel Koller verblüfft die Österreicher sowieso immer wieder aufs Neue, seit er im Spätherbst 2011 angetreten ist, den heimischen Fussball auf Vordermann zu bringen. Die Skepsis war gross seinerzeit, und dem Schweizer blies ein äusserst kühler Wind entgegen. Vier Jahre später outen sich nun freilich selbst die grössten Kritiker von damals als bekennende Koller-Fans.
Herbert Prohaska bat den 54-jährigen Zürcher jetzt in Stockholm vor laufender Kamera sogar um Vergebung. Der österreichische Jahrhundertfussballer hatte in seiner Funktion als ORF-Experte anlässlich von Kollers Bestellung gemeint: «Solche Trainer haben wir bei uns auch.» Nach der 4:1-Gala in Schweden, bei der die Österreicher mit überfallsartigen Gegenstössen die Skandinavier aushebelten, sagte Prohaska im Beisein von Koller: «Gott sei Dank habe ich mich in dir geirrt.»
Koller ist das Beste, was Österreich passieren konnte
Tatsächlich ist dieser Marcel Koller wohl das Beste, was dem österreichischen Fussball passieren konnte. Mit seiner sachlichen und unaufgeregten Art; mit seiner strukturierten Arbeitsweise, die frei von Aktionismus ist; mit der Konsequenz, mit der er seinen Weg seit seinem Amtsantritt bestreitet; mit dem Vertrauen, das er seinen Spielern entgegenbringt. In jener Mannschaft, die nun so souverän durch die Gruppe G gerauscht ist (sieben Siege, ein Remis) finden sich nämlich gleich mehrere Spieler, die von anderen Teamchefs wohl bereits aussortiert worden wären.
Robert Almer von Austria Wien zum Beispiel, ein Tormann, der in den vergangenen zwei Jahren in Hannover nur auf der Ersatzbank sass. Koller stellte ihn trotz fehlender Spielpraxis dennoch immer ins Tor, weil er von ihm im Team nie enttäuscht worden war. Mittlerweile hält Almer, der einzige Nicht-Legionär in der Stammelf, den Rekord für die längste Serie ohne Gegentor im Nationalteam (603 Minuten).
Marc Janko dankt das Vertrauen mit Toren
Da ist auch Marko Arnautovic, Clubkollege von Xherdan Shaqiri bei Stoke City, das Enfant Terrible, das immer wieder durch Eskapaden und seinen betont lässigen Spielstil negativ in Erscheinung getreten war: Koller hielt am Exzentriker fest, trieb ihm die Flausen aus und mittlerweile ist dieser Problemboy Arnautovic der Teamspieler mit den meisten Einsätzen in der Ära Koller.
Und da ist ausserdem Marc Janko, der seinerzeit bei Trabzonspor auf die Tribüne verbannt war. Was machte Koller? Er berief den umstrittenen Stürmer immer und immer wieder ein, und Janko dankte es mit entscheidenden Toren. Nach seinem Treffer zum zwischenzeitlichen 3:0 in Stockholm gehört der Stürmer des FC Basel mit 22 Toren mittlerweile zu den Top Ten der erfolgreichsten österreichischen Teamstürmer. «Ich muss mich bedanken, wie sich die Mannschaft in diesen vier Jahren entwickelt hat», sagt Koller.
Der Sprung in der Rangliste und im Ansehen
Nur zur Erinnerung: Als der Schweizer 2011 seine Mission begann, wurde Österreich in der Fifa-Weltrangliste hinter den Kapverden auf Rang 72 geführt und hatte eine kleine Ewigkeit kein Auswärtsspiel mehr gewonnen. Vier Jahre später steht die ÖFB-Elf im Fifa-Ranking als 13. – vor Italien und Frankreich – so gut da wie noch nie und hat alle Auswärtsspiele dieser EM-Qualifikation gewonnen.
Marcel Koller fordert deshalb zurecht, dass die aktuelle Generation in den Rang der einstigen Cordoba-Helden rund um Schneckerl Prohaska und Hansi «I wear narrisch» Krankl erhoben werden. «Ich habe in den letzten Jahren hier in Österreich immer zu hören bekommen, wie schön es doch früher war», berichtet der Schweizer, «dieses Team hat sich jetzt aber auch in diese Sphären gespielt. Davon werden sie in Österreich auch noch lange reden.»
Begeisterer Empfang mitten in der Nacht: Teamchef Marcel Koller nach der Rückkunft des ÖFB-Teams in Wien. (Bild: Keystone/ROBERT JAEGER)
Marcel Koller selbst sieht sich nach der gelungenen EM-Qualifikation jedenfalls auf dem Höhepunkt seines Schaffens. «Das ist absolut mein grösster Erfolg als Trainer», sagt der 54-Jährige, «das kann man nicht mit Erfolgen bei einem Verein vergleichen. Das Nationalteam steht über allem.» Und die Entwicklung ist noch lange nicht abgeschlossen. Solche Gala-Vorstellungen wie beim 4:1 in Stockholm – die österreichischen Medien schwärmen in Anlehnung an die EM in Frankreich gar vom Champagner-Fussball – sollen künftig der Standard sein. «Wir wollen uns nach oben keine Grenzen setzen», sagt der Teamchef.
1,6 Millionen vor den TV-Bildschirmen
Die Euphorie rund um Nationaltrainer Koller und sein Team hat derweil ungeahnte Dimensionen angekommen, die man hierzulande nur von den Skigöttern in Weiss kannte. 1,636 Millionen Menschen verfolgten das Match in Stockholm im ORF – das ist die beste Quote für ein Qualifikationsspiel einer österreichischen Nationalmannschaft seit 2001. Am Tag nach dem Triumph gingen beim ÖFB bereits Tausende Ticketwünsche für die EM ein. «Man merkt, dass hier etwas Besonderes passiert ist. Wir haben Sportgeschichte geschrieben», erklärte Mittelfeldregisseur Zlatko Junuzovic von Werder Bremen.
Bei den Spielern hat diese EM auch einen deutlich höheren Stellenwert als die Euro 2008 im eigenen Land. «Damals ist uns die Teilnahme doch nur geschenkt worden», erinnert sich Martin Harnik vom VfB Stuttgart, der zweifache Torschütze von Stockholm, «aber wir konnten das nicht wirklich geniessen. Das wird jetzt ganz was anderes.»
Und Marcel Koller? Der war schlussendlich heilfroh, als er wieder festen Boden unter den Füssen hatte. So sehr es ihm auch schmeichelte, dass ihn seine Spieler auf Händen durch das Stockholmer Stadion trugen. «Aber irgendwie hat man dann immer die Angst, dass plötzlich alle weggehen und keiner einen auffängt.»
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