Petkovic: «Wir müssen noch hungriger sein und noch mehr wollen»

Die Schweizer Nationalmannschaft erreicht erstmals die K.-o.-Runde einer Europameisterschaft und trifft am kommenden Samstag in St-Etienne auf Deutschland, Polen oder Nordirland. Für die Schweizer wird das die echte Prüfung, und nicht nur der Nationaltrainer will mehr.

Switzerland coach Vladimir Petkovic, left, celebrates with Switzerland goalkeeper Yann Sommer at the end of the Euro 2016 Group A soccer match between Switzerland and France at the Pierre Mauroy stadium in Villeneuve d�Ascq, near Lille, France, Sunday, June 19, 2016. (AP Photo/Geert Vanden Wijngaert)

(Bild: Keystone/GEERT VANDEN WIJNGAERT)

Die Schweizer Nationalmannschaft erreicht erstmals die K.-o.-Runde einer Europameisterschaft und trifft am kommenden Samstag in St-Etienne auf Deutschland, Polen oder Nordirland. Für die Schweizer wird das die echte Prüfung, und nicht nur der Nationaltrainer will mehr.

Auf diesen Auftritt darf sich die Schweizer Nationalmannschaft ruhig etwas einbilden. Dem Gastgeber-Team widerstanden zu haben, ist das eine. Etwas Glück in Anspruch genommen zu haben bei den drei Aluminiumtreffern, das gehört dazu. Zum anderen spielte die Schweiz weit weg vom eigenen Tor einen Ballbesitzfussball, der höheren Ansprüchen genügt. Und das einzige Manko dieser Mannschaft war, dass sie kein einziges Mal auf das Tor von Hugo Loris geschossen hat.

Aber auch so reichte es für einen Eintrag in die Geschichtsbücher: Zum ersten Mal hat eine Schweizer Nationalmannschaft die Vorrunde einer Europameisterschaft überstanden. Sie hat damit ihr gestecktes Ziel erreicht. Ein Minimalziel, wenn man Trainer und Spieler nach dem Spiel richtig verstanden hat.

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«Wir können uns nicht darauf ausruhen», findet Vladimir Petkovic und fordert sogleich: «Wir müssen noch hungriger sein und immer mehr wollen.»



Football Soccer - Switzerland v France - EURO 2016 - Group A - Stade Pierre-Mauroy, Lille, France - 19/6/16 Switzerland players in front of fans at the end of the match REUTERS/Pascal Rossignol Livepic

Die Schweizer Nationalspieler werden im Stade Pierre-Mauroy von Lille von den mitgereisten Fans gefeiert. (Bild: Reuters/Pascal Rossignol)

Am kommenden Samstag kommt es um 15 Uhr in St-Etienne zum nächsten Rendez-vous. Den Gegner werden die Schweizer erst am Dienstag erfahren, wenn die Gruppe C abgeschlossen wird. Weltmeister Deutschland (4 Punkte) spielt gegen Nordirland (3) sowie Polen (4) gegen die Ukraine (0), und ausser den bereits ausgeschiedenen Ukrainern ist noch jeder Gegner möglich.

Mit dem torlosen Remis gegen die Franzosen, dem fünften Punkt im dritten Spiel, haben sich die Schweizer erstens das theoretisch mögliche Scheitern als Gruppendritter erspart und ausserdem ein langes Warten bis Mittwoch Mitternacht, wenn die Vorrunde abgeschlossen ist und die Rechnung mit den vier besten Gruppendritten gemacht wird.

Ausser der fehlenden zündenden Idee ein tadelloser Auftritt

Es bleibt ihr also fast eine Woche zur Regeneration im Teamquartier bei Montpellier und die Aufarbeitung des Abends in Lille und dieser Vorrunde.

Der Auftritt gegen Frankreich war auch deshalb so beeindruckend, weil die Schweiz mit Ausnahme weniger Phasen die dominierende Mannschaft war. Das Ballbesitzverhältnis (siehe Tabelle) gibt darüber Auskunft. Abschnittsweise betrug es fast 70 Prozent.



Switzerland coach Vladimir Petkovic celebrate with players at the end of the Euro 2016 Group A soccer match between Switzerland and France at the Pierre Mauroy stadium in Villeneuve d�Ascq, near Lille, France, Sunday, June 19, 2016. (AP Photo/Darko Vojinovic)

Vladimir Petkovic geniesst den Moment nach dem Abpfiff in Lille. mit dem torlosen Remis gegen Frankreich kommt die Schweizer Nationalmannschaft erstmals über eine EM-Vorrunde hinaus. (Bild: Keystone/DARKO VOJINOVIC)

Deshalb freut sich Petkovic, der sich und seine Arbeit oft missverstanden sieht, über das stilsichere Spiel seines Teams, das auch die rund 15’000 nach Nordfrankreich gereisten Schweizer Fans mitriss. Augenzwinkernd an seine Kritiker gerichtet sagt der Nationaltrainer: «Das eine oder andere war mein Vorschlag. Wir haben es in Überzahl gut gemacht mit unserem Pingpong-Spiel. Dadurch war der Gegner gezwungen, sich in seine eigene Hälfte zurückzuziehen.»

Lediglich die Einladung zum einen oder anderen Konter hatte Petkovic an der ansonsten tadellosen Organisation seiner im Vergleich zu den ersten beiden Spielen auf einer Position veränderten Startelf zu bemängeln.

«Endlich auch mal einem Grossen gezeigt, dass wir spielen können»

Die zündende Idee im letzten Drittel ging der Mannschaft zwar ab, aber sie kann sich rühmen, «endlich auch mal einem Grossen gezeigt zu haben, dass wir spielen können», wie das Granit Xhaka ausdrückte. Er war erneut Dreh- und Angelpunkt, der herausragende Ballverteiler (95 Prozent seiner Pässe fanden den Adressaten) und Taktgeber in einer Schweizer Mannschaft, die durch ihre Laufbereitschaft auffiel und in der keinem ein Meter zu viel war.

Schweiz–Frankreich in Zahlen
Quelle: faz.net | dpa infocom/opta
 

Schweiz

Frankreich

Ballbesitz in Prozent

58,1 41,9
Schüsse 6 14
Schüsse aufs Tor 0 4
Schüsse ausserhalb 16-Meter-Raum 4 7
Schüsse innerhalb 16-Meter-Raum 2 7
Pfosten/Latte 0 3
Torhüterparaden 4 0
     

Gelaufene Kilometer

107,769 106,422
     

Pässe

505 354
angekommen in Prozent 87,3 80,2
Pässe lang 53 57
angekommen in Prozent 71,7 57,9
Pässe kurz 452 297
angekommen in Prozent 89,2 84,2
Pässe im letzten Drittel 92 127
angekommen in Prozent 71,7 71,7
Flanken 14 16
angekommen in Prozent 7,1 25
     

Eckbälle

5 10
Abseits  4 0
     

Zweikämpfe gewonnen

47 54
Zweikämpfe gewonnen in Prozent 46,5 53,5
Fouls 9 10
Gelbe Karten 0 2

Bei aller Freude über die gut organisierte, ballsichere und defensiv kompakte Leistung (Yann Sommer: «Wir sind unglaublich glücklich, dass wir in den Achtelfinals sind. Wir haben uns das verdient, das ist toll fürs Land und toll für uns»), wird im Schweizer Lager noch Potenzial zur Fortsetzung des des Steigerungslaufes gesehen. Vor allem im offensiven Bereich. 

Noch mehr Selbstbewusstsein ist gefragt beim letzten Pass 

Das hört sich fast unisono an: «Auf den letzten 20 Metern hätten wir konsequenter spielen müssen» (Xhaka), «wir müssen noch konsequenter nach vorne spielen» (Sommer), «Wir müssen noch mehr Willen und Selbstbewusstsein zeigen, wenn es um den letzten Pass geht» (Petkovic).



Switzerland's Valon Behrami, holds the ball after it burst during the Euro 2016 Group A soccer match between Switzerland and France at the Pierre Mauroy stadium in Villeneuve d�Ascq, near Lille, France, Sunday, June 19, 2016. (AP Photo/Martin Meissner)

Valon Behrami: Dem Ball die Luft rausgelassen, den Franzosen weitgehend auch, und nun will das Schlachtross im Schweizer Team noch mehr. (Bild: Keystone/MARTIN MEISSNER)

«Auf den letzten 20 Metern müssen wir konkreter sein. Wir wissen, dass das unser Problem ist. Und wenn wir das besser machen, dann können wir wirklich etwas erreichen an dieser Euro», lautet Valon Berahmis Urteil. Der 31-Jährige wurde wieder einmal seinem Ruf als Schlachtross gerecht, erlaubte sich lediglich einen heiklen Ballverlust, der folgenlos blieb, und trat einen Ball kaputt, was zum Abend der Materialprüfung passte. Sieben Trikots zerrissen die Franzosen den Schweizern am Leib.

Auch das war ein Zeichen, welch unangenehmen Gegner die Schweizer für den EM-Gastgeber abgegeben haben. Auch Breel Embolo, der anstelle von Haris Seferovic die Angriffsspitze bildete und sich aufrieb zwischen den routinierten Verteidigern Adil Rami und Laurent Koscielny.

Auch wenn sich das Basler Juwel nicht entscheidend durchsetzen konnte: Lob bekam er von seinen Widersachern nach dem Spiel und von seinem Trainer: «Er hat um jeden Ball gekämpft und den Gegner vor Probleme gestellt.» Embolo selbst sagt: «Solche Spiele sind zum Lernen da.»

Das EM-Fieber wird ansteigen

Was jetzt noch kommt, ist aus Schweizer Perspektive eine Zugabe. Ein Duell mit Weltmeister Deutschland wäre zwar die grösste anzunehmende Herausforderung, aber auch gleichzeitig die süsseste Verlockung. Gegen den grossen Nachbarn aus dem Norden hat die Schweiz 1938 in einem WM-Achtelfinal ihren einzigen Sieg (4:2) in einem Ernstkampf gefeiert. 2012, im Vorfeld der Euro, gelang in Basel der erste Sieg (5:3) in einem Freundschaftsspiel nach 56 Jahren.



Football Soccer - Switzerland v France - EURO 2016 - Group A - Stade Pierre-Mauroy, Lille, France - 19/6/16 Switzerland's Granit Xhaka has his shirt ripped after a challenge by France's Paul Pogba (not pictured) REUTERS/Gonzalo Fuentes Livepic

Wieder herausragender Schweizer, wieder der mit den meisten Ballkontakten und einer Passquote von 95 Prozent: Granit Xhaka, dem die Franzosen gleich zweimal das Trikot ruinierten. (Bild: Reuters/Gonzalo Fuentes)

«Wir probieren, uns gegen jeden Gegner zu zeigen», sagt Petkovic, und ahnt, dass der 25. Juni 2016 in St-Etienne «eine richtige Prüfung wird». Egal, gegen welchen Gegner. 

«Haben noch nichts Sensationelles erreicht»

Die Tage vor diesem Achtelfinal werden gekennzeichnet sein von steigendem EM-Fieber, nicht nur im Schweizer Quartier in Montpellier, sondern im ganzen Land.

Und welcher Geist in diesem Nationalteam herrscht, das verdeutlicht Valon Behramis Einschätzung: «Ich bin sehr stolz auf diese Mannschaft. Wir haben mit Persönlichkeit und Souveränität gespielt, und die Leistung war wirklich gut. Aber wir haben nur unsere Arbeit gemacht, nicht mehr und nicht weniger. Die Qualifikation für die Achtelfinals war unser Ziel. Das haben wir erreicht, aber nichts Sensationelles. Wir müssen noch mehr arbeiten, um noch weiter zu gehen.»  

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