Plastikgriffe oder Felsvorsprünge? Im Klettern zählt nicht nur Leistung

Bei der Schweizer Meisterschaft im Bouldern massen sich in Pratteln Kletterer an künstlichen Wänden. Manch ein Boulder-Pionier schüttelt darüber den Kopf.

Ist das bloss der Ausdruck unserer Leistungsgesellschaft? Bei der Schweizer Meisterschaft im Bouldern stehen die Kletterer unter Zeitdruck.

(Bild: David Schweizer)

Bei der Schweizer Meisterschaft im Bouldern massen sich in Pratteln Kletterer an künstlichen Wänden. Manch ein Boulder-Pionier schüttelt darüber den Kopf.

Der Schiedsrichter gibt das Signal, ein Kletterer und eine Kletterin eilen aus ihren Ecken über die Matten vor die Boulders: vordefinierte Kletterrouten über wenige Meter – geklettert wird seilfrei, ein Sturz endet auf der Matte, die wenigen Züge sind maximal schwierig. Die Sportart steht in einem ähnlichen Verhältnis zum Seilklettern wie ein 100-Meter-Lauf zu einem Mittelstrecken- oder Marathonlauf.

Auf der Uhr sind schon 30 wertvolle Sekunden der insgesamt vier Minuten abgelaufen. Der Westschweizer Nils Favre hat es bereits einmal an der Wand versucht, doch ist er dabei gescheitert. Er schüttelt die Arme, studiert die Route und steigt sofort wieder ein. Das Publikum feuert derweil Petra Klingler an, die spätere Siegerin der Frauen.

Unter Zeitdruck

Diese windet sich wie eine Schlange um die dreidimensionale Wandkonstruktion. Die Fersen werden zu zusätzlichen Händen, während diese sich an kaum sichtbaren Leisten und abschüssigen Strukturen festkrallen. Verrenkt greift sie mit einer Hand zum obersten Griff. Der Speaker übernimmt: «Eine Hand ist bereits oben, die zweite kommt näher. Und auch dieser Boulder ist geschafft. Ein Applaaaus für Petra!»

Unterdessen läuft Nils die Zeit davon. Er steht wieder auf der Matte und sucht gehetzt nach einer Lösung. Noch zwei Sekunden. Er steigt nochmals ein. Das Publikum mit ihm. Solange seine Füsse die Matte nicht berühren, darf er nun noch klettern. Doch das Laktat in den Unterarmen zwingt ihn zu handeln. Ein letzter Versuch, er springt zum rettenden Griff – und verfehlt ihn. Schon gibt der Schiedsrichter das Signal für die Nächsten beiden, sie eilen herbei, die Uhr zählt bereits wieder abwärts.

In der Boulderhalle B2 in Pratteln fand am vergangenen Samstag die diesjährige Schweizer Meisterschaft im Bouldern statt. Obwohl der Ursprung der jungen Sportart meist in die 50er-, 60er- und 70er-Jahre gesetzt wird, braucht es keine grosse Vorstellungskraft, um zu verstehen, dass jedes Kind schon davor gerne auf Felsblöcke kletterte.

In der Ernsthaftigkeit liegt aber der Grund für die Datierung der Boulder-Geburtsstunde in diese Jahrzehnte. Der Aufwand, der betrieben wurde, um die wenigen Züge nach oben zu schaffen, nahm zu. Intensives Training, aber auch die Reinigungsarbeit, die nötig war, um die Felsen von Moos, Erde und Flechten zu befreien, nahm einen grossen Teil der Zeit dieser Boulder-Pioniere in Anspruch. Viele von ihnen schütteln aber heute den Kopf, wenn sie Nils oder Petra gehetzt an den Kunststoffgriffen sehen.

Es sei ein Ausdruck unserer Leistungsgesellschaft, sagt einer davon am Samstag im B2. Sicherlich, der Drang nach Leistung und Anerkennung ist nicht zu übersehen – ein 15-jähriges Mädchen in der Kategorie U18 weint, weil sie die Züge nicht geschafft und deshalb den Wettkampf nicht gewonnen hat. Aber macht Leistungsvergleich nicht auch einfach Spass? Weshalb fordert man sich an Sonntagen beim Fussballspielen mit Freunden zu Matches heraus und spielt nicht den ganzen Nachmittag nur Pässe?

Klettern in der freien Natur

Der Leistungsvergleich liegt sicher nicht allen, und was der Kritiker wohl sagen wollte, ist, dass durch die Anerkennung, die sogenannten Siegern und Erstplatzierten heute zukommt, jene leiden, die Mühe mit diesem Leistungsvergleich haben. Zur gleichen Zeit wie im B2 aber die Boulderer das Plastik hinaufeilten, erneuerte eine kleine Gruppe lokaler Kletterer wenige Kilometer entfernt im Wald Zustiegswege zum Klettergebiet Schauenburgerfluh. Sie haben sicherlich nicht unter der tickenden Uhr im B2 gelitten.

Der Kritiker hat also nicht in dem Sinne recht, dass jene, die Freude an Wettbewerben haben, denen schaden, die dies nicht wollen. Er hat aber recht, dass der Wunsch nach Anerkennung durch Wettbewerbe und Vergleiche – von Schulnoten über Sportvereine bis zu Selbstdarstellungen auf sozialen Plattformen – geschürt wird, und der Verzicht darauf durchaus eine Herausforderung sein kann.

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Die 32 Wettkampf-Boulders können ab sofort alle im B2 geklettert werden. Auf den neuen Waldwegen gehts zur Schauenburgerfluh – ein perfektes Frühlingsgebiet.

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