An den Swiss Indoors, seinem Heimturnier, wird Roger Federer wie gehabt der unbestrittene Star sein. Auf dem Court aber macht sich mit Andy Murray ein bisweilen ungeliebter Schotte daran, dem Baselbieter den Rang abzulaufen.
Als die Tenniswelt sich um Silvester 2011 gerade so aus dem Winterschlaf aufrappelte, da setzte einer der «fabelhaften Vier» («New York Times») im Herrenrevier bereits das erste Ausrufezeichen: Andy Murray verkündete just am 31. Dezember seine neue Trainer-Liaison mit dem bärbeissigen Tour-Rentner Ivan Lendl.
Anderntags erläuterte der Schotte der Weltpresse genau so wie seiner treuen Social-Media-Gemeinde im Internet die tieferen Beweggründe für den Coup: «Ich wollte immer einen Trainer engagieren, der mich wirklich weiterbringt. Und das ist Ivan.»
Gold, Silber und Bronze für die Swiss Indoors
Es ist immer eine Zitterpartie für die Verantwortlichen der Swiss Indoors. Werden die frühzeitig verpflichteten Stars in Basel wirklich an den Start gehen – oder sagen sie kurzfristig ab?Bislang sieht es nicht schlecht aus für das mit 1,953 Millionen Euro dotierte Tennisturnier, das vom 20. bis 28. Oktober in der St. Jakobshalle stattfindet.
Zwar hat mit dem Japaner Kei Nishikori der Finalverlierer des Vorjahres verletzt abgesagt. Doch auch ohne die ATP-Nummer 16 kann sich das Feld sehen lassen. Mit der Weltranglisten-Ersten, Roger Federer (Silber), Andy Murray (Gold, ATP 3) und Juan Martin del Potro (Bronze, ATP 8) sind sämtliche Medaillengewinner der Olympischen Spiele von London in Basel am Start. fra
Nicht wenige haben in jenem Moment an Andy Murray gezweifelt, so wie sie es auch in all den Tennisjahren dieses «Championspielers mit Wenn und Aber» («Frankfurter Rundschau») getan hatten. Murray und Lendl – konnte das wirklich gut gehen, erhöhte das nicht noch den Druck auf den jungen Mann aus Dunblane, endlich die grossen Titel bei den grossen Turnieren liefern zu müssen?
Hoch gepokert und alles gewonnen
«Andy hat, kein Zweifel, extrem hoch gepokert. Aber er hat gewonnen. Und zwar auf ganzer Linie», sagt nun im Herbst 2012 die ehemalige Weltnummer 1 John McEnroe, «er hat eindeutig zu den anderen Topstars aufgeschlossen. Er steht jetzt auf Augenhöhe mit ihnen.» McEnroe gibt zu, selbst skeptisch gewesen zu sein, als Murrays Liaison mit Lendl verkündet wurde: «Aber Ivan hat Murray besser gemacht, ohne sein Spiel völlig umgekrempelt zu haben – und das ist eine beachtliche Leistung.»
Die Erfolge dieser aussergewöhnlichen Partnerschaft sind nicht nur von bemerkenswerter Stabilität, sondern haben seit diesem Sommer auch eine historische Kolorierung: Zwar verlor Murray noch den Wimbledon-Final gegen einen zupackenden, drahtigen, fitten und energiegeladenen Roger Federer.
Doch dann folgte die Offensive des schlauen Strategen, der unter höchster Nervenbelastung erst bei seinen olympischen Heimspielen im All England Club die Goldmedaille abräumte. Und der dann auch noch die 76-jährige britische Grand-Slam-Titeldürre mit seinem Triumph bei den US Open beendete. Just dann, als alle Welt spöttelte, Murray sei jetzt der Sieger in Wimbledon, ohne Wimbledon-Sieger zu sein. Es waren Momente, von denen Murray später sagte, er hätte sie am liebsten «für alle Ewigkeit» festhalten wollen.
Und was zeichnet den anderen, den neuen Andy Murray nun aus? Den Mann, der sich nach dem Empfinden vieler Experten mit Roger Federer um den Titel «Spieler des Jahres» streitet – ungeachtet der offiziellen Weltrangliste, in der aller Voraussicht nach Novak Djokovic nach dem Londoner Saisonfinale den Spitzenplatz einnehmen wird?
Runter von der Achterbahn
Er ist psychisch weitaus stabiler geworden, vergeudet seine Energie nicht mehr in diesen cholerischen, jähzornigen Wutausbrüchen, sucht selbst öfters seine Chancen – und wartet nicht mehr, wie in zahllosen verlorenen Matches der Vergangenheit, nur auf die Fehler seiner Rivalen.
«Ivan hat mich ausgeglichener gemacht, ruhiger, balancierter im ganzen Auftreten», sagt Murray, «es gibt zwar noch Gefühlsschwankungen in den Matches, aber nicht mehr diese Achterbahnfahrten, die echt an die Substanz gehen.» Lendl baute aber auch das Selbstbewusstsein des eleganten Spielertypen auf, der in der unbarmherzigen Londoner Boulevardpresse gern mal verspottet worden war; als «Popeye, dem in Spitzenduellen irgendwie immer der Spinat fehlt».
Natürlich habe auch er irgendwann seine Zweifel gehabt, als er die wichtigen Spiele verloren und die heftige Kritik gelesen habe, sagt Murray: «Schliesslich kann am Ende des Tages nichts einen Sieg ersetzen.» Lendl sei ihm da eine grosse Hilfe gewesen, weil «er als unbestechlicher Beobachter meine Leistung exakt einordnen kann – abseits von Sieg und Niederlage». Das galt wohl besonders für die aus seiner Sicht bittere Wimbledon-Niederlage gegen Federer, nach der Lendl gleich zu Murray in die Kabine kam und das Geschehen mit den üblich knappen, aber wirkungsvollen Worten resümierte: «Ich bin stolz auf dich.»
Und plötzlich diese Emotionen
Wimbledon war so auch im Scheitern ein Gewinn, ein Schritt nach vorne. Nicht zuletzt, weil Murray auch erstmals bedingungslos von den eigenen Fans unterstützt worden war – und weil er später bei den Siegeszeremo-nien bisher ungekannte Emotionen zeigte. «Die Menschen haben ihn da wirklich in ihr Herz geschlossen. Sie haben eine ganz neue Seite an ihm entdeckt. Eine Seite, die sie mochten», sagt Mutter Judy Murray, «und Andy hat aus dieser Sympathie, die ihm da entgegenschlug, neue Kraft und Energie getankt.»
Lange Jahre hatte Murray unter der Ungnade gelitten, in eine Ära dieses Sports hineingeschleudert worden zu sein, in der ihm – dem absolut Hochbegabten – spiel- und nervenstärkere Champions die grossen Titel reihenweise wegschnappten.
Murray musste die Paradesaison eines Rafael Nadal miterleben, der 2010 drei der vier Grand-Slam-Titel holte und über weite Strecken jener Spielzeit einfach unschlagbar schien. Dann, als Nadal nachliess, schlug die grosse Stunde des mit Murray gleichaltrigen Serben Novak Djokovic, der 2011 ebenfalls zum überragenden Dominator wurde, drei Majorpokale einstrich und die alten Granden im Turbospeed überholte.
Dass Andy Murray trotzdem nicht zerbrach an dieser Dramaturgie und an der Hackordnung in der Spitze, rechnen ihm Insider hoch an. «Wenn du Federer, Nadal und dann auch Djokovic vor dir hast und siehst, wie die alles abräumen, kannst du auch verzweifeln. Und richtig wegrutschen», sagt der dreimalige Wimbledon-Gewinner Boris Becker, «aber Murray hat sich da nicht beirren lassen, ist seinen Weg gegangen. Und hat sich im richtigen Moment mit Ivan die ideale Verstärkung gesucht.»
«Murray weiss erst jetzt, was er wirklich kann», sagt Boris Becker.
Man merke schon, meint Becker, dass Murray mit verwandeltem Selbstbewusstsein und auch einer anderen Grundausrichtung auf den Platz gehe. «Er weiss erst jetzt, was er wirklich kann. Und wie er dieses Potenzial ausschöpfen muss», sagt der Deutsche, der Murray in den letzten Wochen und Monaten als BBC- und Sky-Britain-Kommentator beobachtete. «Früher war er ein zahnloser Löwe, wenn es hart auf hart ging.»
Murray steht allerdings auch für einen Trend im Welttennis, der im Jahr 2012 immer mehr Konturen und Belegkraft gewann: Immer mehr Tennisprofis kommen sowohl auf der Männertour wie in der Frauenabteilung immer später zu den ersten Karriereerfolgen. Ein Durchbruch wie jener von Murray mit Mitte zwanzig ist eher typisch für die Branche, die sich vom Jugendwahn und der Sehnsucht nach Wunderkindern längst verabschiedet hat.
Mit Mumm an die Swiss Indoors
«2012 war auch das Ende eines langen Lern- und Ausbildungsprozesses», sagt der heute 25-jährige Murray. «Mit 20 oder 21 war ich eben noch nicht reif für diese Siege. Im Tennis brauchst du heute einfach deine Zeit, um an gewisse Wegmarken zu kommen.» Und in Schlagdistanz zu einem Grand-Slam-Triumph wie bei den US Open, der über 4 Stunden und 54 Minuten schwerstens erkämpft wurde – in einem Marathon-Duell für Körper und Geist.
Den neuen Mumm, diese Courage und zielführende Aggressivität will Murray nun auch in die Swiss Indoors, den Rest der Saison und auch ins Jahr 2013 transportieren – in ein Jahr, das ihn womöglich erstmals auf Platz 1 der Weltrangliste sehen könnte.
Der Blick auf die nackten Zahlen, Daten und Fakten ist Murrays Sache allerdings nicht so sehr, er schielt lieber auf die ausgewählten Turniereinsätze und die dort möglichen Siege. «Ich will Pokale gewinnen, dann kommt der Rest von allein», sagt er, der gegenwärtig in den ATP-Charts auf Platz 3 hinter Federer und Djokovic liegt.
Genau wie sein Trainer Lendl musste Murray zunächst seine ersten vier Grand-Slam-Finals verlieren, bevor er endlich eine der begehrten Trophäen in die Höhe stemmen konnte. Lendl gewann nach dem French-Open-Titel 1984 dann noch weitere sieben Majors – und wenn nicht alles täuscht, könnte Murray ihm durchaus in jenen Karrierespuren folgen. Als Mann, der nicht mehr der ewige Zweite und der ewige Hoffnungsträger ist. Sondern ein Spieler, der für Siege steht. Auch für ganz grosse Siege.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 19.10.12