Radeln im Surrealen – Mit dem Fixie von Los Angeles nach Mexico City

Der Basler Filmemacher Armin Biehler («Chicken Mexicaine») radelte mit zwei Velokurier-Kollegen fünf Wochen von Los Angeles nach Mexico City – 1800 Kilometer auf dem Fixie. Eine Reportage in Wort, Bild und Ton.

Armin Biehler als Wasserträger in der Wüste irgendwo im Nirgendwo der Baja California. (Bild: Alice Spörri)

Der Basler Filmemacher Armin Biehler («Chicken Mexicaine») radelte mit zwei Velokurier-Kollegen fünf Wochen von Los Angeles nach Mexico City – 1800 Kilometer auf dem Fixie. Eine Reportage in Wort, Bild und Ton.

Er steht mit dem Gartenschlauch in der Hand da. Vor ihm der Palmenhain, hinter ihm die Aussenmauer der Hotelanlage. Die Situation könnte ein Bild des Gärtners im Garten Eden abgeben, wäre da nicht dieses Geräusch. Dieses aufschwellende Surren, das in ein unerbitterliches Zischen übergeht, wenn die Flammen von einer Palme zur nächsten überspringen.

Das Feuer krallt sich in abgestorbenen Palmblättern unter der Krone fest und heizt glutrot nach oben ins noch satte Grün. Die Oase brennt. San Ignacio. Hier haben wir vor vier Stunden Quartier bezogen auf unserer Velofahrt durch die Wüste in der Mitte der mexikanischen Baja California. Diese Halbinsel von der Grösse Italiens, die wie der ausgestreckte Zeigefinger im Pazifik vor der Westküste Mexicos uns den Weg nach Süden weist.

Ich sehe, der Gartenschlauch hat ein Loch. Bücke mich und drücke von nun an den Schlauch in der linken Hand, damit kein Wasser mehr verloren geht. Ein gute Art, den Gedanken an die Absurdität unseres Tuns zu verdrängen. Überhaupt niemand scheint an Flucht zu denken. Das gute Dutzend Hotelmitarbeiter ist in stoischer Gelassenheit damit beschäftigt, die Flammen einzudämmen. Irgendwann wird ein Feuerwehrauto auftauchen. Aber die Mannschaft rollt die Schläuche unverrichteter Dinge wieder zusammen. Der Wasserdruck reicht nicht aus.

Mittlerweile ist es Abend geworden. Der Wind hat sich gelegt, das Feuer sich beruhigt und kokelt vor sich hin. Es wird dunkel und wir haben Hunger. Ausser uns gibt es keine anderen Gäste.

Losgefahren sind wir – Alice Spörri, Luca Fiechter (der seine Erlebnisse im Blog «Leaf’s Journey» verarbeitet hat) und ich – in Los Angeles. Haben am Flughafen unsere Velos zusammengebaut und sind bei Sonnenuntergang in die Innenstadt geradelt. Drei Kuriere aus Basel mit dem Ziel Mexico City. Beflügelt von einer riesigen Vorfreude auf das Kommende. Unsere Maschinen: zwei Starrlaufräder, also Fixies, eines davon ohne Bremsen, und ein geschaltetes Velo.

Nachts sind wir mit einheimischen Velokurieren durch ihr L.A. gesurft. Wenig Verkehr, eigentlich leer. Das war vor acht Tagen, rund 1300 Kilometer nördlicher. Jetzt von der Oase aus zurückgeschaut, sind die acht Tage keine fassbare Kategorie mehr. Gestern? Vor einem halben Jahr? Irgendwann in Los Angeles, halt. Das Velofahren durch die Wüste hat den Bezug zum Vergangenen gekappt.

Mexiko war mir bis jetzt kein konkretes Erlebnis. Die aktuelle mediale Berichterstattung über die Gewalt rund um die internationalen Drogengeschäfte hat den vorgesehenen vierten Mitreisenden nach seiner ausführlichen Recherche google/verbrechen/mexico/bilder dermassen abgeschreckt, dass er zu Hause blieb.

Ich selber hielt mich eher an den surrealistischen Filmregisseur Luis Buñuel («Los Olvidados» – Die Vergessenen 1950). Er fand in Mexiko über Jahre hinweg Inspiration und den Boden für seine Arbeit, die nach wie vor als Schlüssel gilt für die Erfahrung des mexikanischen Alltags zwischen lakonischem Realismus und überbordendem Traum. 

Als wir aufstehen, liegt der beissende Geruch verkohlter Palmen in der blaugrauen Luft. Wir packen. Neben meinen Sachen liegt eine kleine tote Maus. Ich hebe sie am Schwanz hoch und lege sie in den Garten. Wirre Träume der letzten Nacht kommen mir in den Sinn. Sie gehen verloren auf der neu asphaltierten Strasse in Richtung Südwesten. Verkehr gleich null. Wir sind gut unterwegs, radeln nebeneinander und geniessen uns und den Fahrtwind.

Nach drei Stunden Fahrt hat sich die Situation gänzlich verändert. Die Sonne sticht, kein schattenspendendes Objekt weit und breit. Nach Karte müsste die Küste des Pazifiks nur noch fünf Kilometer entfernt sein. Von der Karte hochgeschaut, kein Wasser zu sehen, einzig ausgetrocknete Lagunen mit weisser, blendender Salzkruste. Auch der Asphalt ist Vergangenheit.

Fahren geht nicht mehr, seit geraumer Zeit schieben wir unsere Velos durch den Sand. Am Horizont taucht ein Kleinlaster auf. Wir halten ihn an. Auf unsere Frage, ob dort hinten, wo er herkommt, Wasser zu kaufen sei, lacht der Fahrer. Nada! Überhaupt ist das sein Wort: Nichts! Damit wendet er alle unsere Versuche ab, mit denen wir auf unserer Idee, die nächsten 200 Kilometer an der Küste entlangzufahren, beharren.

Schliesslich öffnet er den Laderaum, um unsere Räder einzuladen. Ich muss zweimal hinschauen. Eis, ja, im Dunkeln grauweisses, grobkörniges Eis, aus dem eine Unmenge Fischköpfe hervorschauen, die mit ihrem eindeutigen Geruch überzeugen. Wieder hören wir dieses freudige Lachen. Zu viert vorne im Lieferwagen eingeklemmt, fahren wir zurück. Der Fischhändler schimpft bei bester Laune auf den Staat, dem er den bewaffneten Tod schicken will, und stellt sich als Gabriel vor. Wie Gabriel in der Wüste, im ‚Nada‘, zu seinen Fischen im Eis kommt, wo er damit hin will, bleibt ein Rätsel. Aber wir sind gerettet.

Nach der Überfahrt mit der Fähre zum mexikanischen Festland erreichen wir um Mitternacht den Bahnhof in Los Mochis. Ich habe mittlerweile meinen Vorderreifen fest mit einem alten Schlauch einbandagiert. Der Mantel war mit einem lauten Knall geplatzt. Genau in dem Moment, als wir im Hafen losfahren wollten. Im Bundesstaat Sinola, der als Zentrum des mächtigsten mexikanischen Drogenkartells gilt. Davon merken wir nichts. Wir schlafen vor dem Eingang des Bahnhofs, wo sich die Sicherheitsmänner für unsere Starrlaufräder interessieren. Ich lasse sie eine Runde auf meinem Velo fahren und bekomme dafür drei englische Bücher geschenkt. Kriminalromane.

Wir wachen um fünf Uhr früh auf. Nebelschwaden umhüllen den Bahnhof. Es herrscht geschäftiges Treiben. Der ‚Chepe‘ wird in einer Stunde losfahren. Die Strecke quert die Sierra Madre. Ein Gebirge, in dem sich der Zug auf über 2400 m ü.M. hochwindet. Nach einer halben Stunde fährt er auf offener Strecke im Schritttempo unter einer Brücke durch. Er hält. Hier liegen nebeneinander aufgereiht Dutzende Obdachlose. Der Zug weckt sie. Einige springen sofort auf und betteln um Geld. Als wir weiterfahren, bleiben sie mit ihren Rufen im Nebel zurück. Mir kommt dieser Ort wie der Vorhof zum endgültigen Abgrund vor. Angst. Erste Strahlen der aufgehenden Sonne zerpflügen das Grau.

Seit einer Woche bewegen wir uns täglich in einer der grössten Städte der Welt mit dem Velo. Mexico City: 24 Millionen Einwohner. Der Verkehr hat auf den bis zu sechsspurigen Hauptachsen einen ständig gleichbleibenden Fluss. Dieses Gewusel ähnelt einem Fischschwarm und verlangt vom Radfahrer, möglichst die Geschwindigkeit der Autos zu halten, in den stehenden Kolonnen im Slalom nach vorne zu schiessen, auf der Kreuzung in die Lücke zu beschleunigen, die sich im querenden Verkehr aufmacht, egal welche Farbe die Ampel zeigt. Das ist der pure Tanz.

Die Fahrt gelingt nur, wenn die Konzentration auf dem Maximum des Möglichen angelangt ist. An die Folgen eines Fahrfehlers zu denken, dafür fehlt schlicht der Platz im Hirn. Die bedingungslose Kommunikation im Verkehr sichert das Überleben. Mich erstaunt, wie gross die Aufmerksamkeit aller ist. Sich hinter der Strassenverkehrsordnung zu verschanzen und auch so zu fahren wäre der Kollaps in diesem fragilen System. Ein Polizist hebt den Daumen, ihm gefällt, wie ich den Fluss gehalten habe und eben bei Rot über die Kreuzung gleite.

Gegen die 60 Fahrer und eine Handvoll Fahrerinnen treffen sich an einer Strassenecke, dem Anfang der Desierto de los Leones. Angesagt ist ein offenes Bergrennen über 18 Kilometer. Im vollen Verkehr. Wir werden im Massenstart auf 2400 m ü.M. – der Höhe Mexico Citys – losfahren – und hoffen, das Ziel auf fast 3200 zu erreichen. Gekommen sind Kuriere aus New York, Chicago, Seattle und anderen nordamerikanischen Städten. Aus Kanada, Australien, Warschau, Duisburg, Basel, Bern und zu einem Drittel aus Mexico City selber. Gefahren wird vom Starrlauf in verschiedensten Übersetzungen bis zum geschalteten Titanrad der Spitzenklasse alles.

Das Rennen ist eröffnet. Das Anfangstempo horrend. Die Spitzengruppe weg. Mein Hirn fängt an zu pochen. Alle fünf Kilometer steht ein Streckenposten. Den zweiten könnte ich fressen, dass er erst die 10 hochhält. Beisse mich doch lieber am Hinterrad meines Vorfahrers fest. Versuche zu attackieren. Er kontert. Es folgt ein offener Schlagabtausch bis ins Ziel. Da fällt mir auf, dass hier eine Frau die Pedale tritt. Sie fährt als erste Fahrerin und zehnte Mexikanerin auf Rang 25 ins Ziel. Ich direkt hinter ihr, als erster Basler, zweiter Schweizer und vierter Europäer. Bin glücklich.

Der Himmel öffnet seine Schleusen. Es fängt an zu regnen. Obwohl aus lauter Höflichkeit von den Einheimischen als völlig ungewöhnlich abgetan zu dieser Jahreszeit, giesst es in Strömen und pladdert immer stärker. Die Abfahrt wird immer steiler. Wir kommen aus dem Wald auf die Autobahn. Die Kanalisation kann die Wassermengen nicht mehr aufnehmen. Kein Pannenstreifen, aber in den Senken Wasserstand bis zu den Knöcheln. Dichter Verkehr. Diejenigen, die Bremsen haben, können sich nicht mehr darauf verlassen. Die Bremsbacken schmieren durch. 

Zahlen & Fakten
Fahrer: Alice Spörri, #849 Kurierzentrale (24); Luca Fiechter, #903 Kurierzentrale (26); Armin Biehler, #115 Metropol (47)
Maschinen: Schmetterling Freilauf 18 Gänge, Don Casati breakless, le monstre Starrlauf
Transportmittel: Velo, Bus, Eisenbahn, Flugzeug
Reisezeit: 5 Wochen Mai-Juni
Distanz: gesamt 3500 km, davon 1800 km mit Velo
Verschleiss: 12 Schläuche, 1 Reifen, 1 Hinterrad, 1 Velorahmen, 2 Gepäcktaschen

Rechts drückt sich ein Sattelschlepper an mir vorbei. Im Spritzwasser erkenne ich einen Fahrer der sich anschickt dieses Ungetüm links zu überholen. Auf gleicher Höhe klickt er die Füsse aus den Pedalen und stellt sie auf den Velorahmen. Die Pedale laufen in immenser Geschwindigkeit mit. Sie bleiben bis auf weiteres unerreichbar. Er wird sein Gefährt nicht mehr bremsen können, bevor es die Topographie der Strasse tut. Es ist Raph aus Lausanne, der amtierende Weltmeister der Velokuriere, vor einem halben Jahr in Montreal losgefahren. Eine Erscheinung. Dieses Bild war die Reise wert. Allez Raph! 

Die Tour auf Google Maps:

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