Den Verein, für den der erste Spielerpass von Raoul Petretta ausgestellt worden ist, den gibt es gar nicht mehr. 2003 ist der SV Warmbach in der badischen Grenzstadt Rheinfelden in einer Fusion im Fussball-Stadt-Verein (FSV) aufgegangen.
2003 ist auch das Jahr, als sich für Raoul Petretta etwas Wegweisendes ereignet: Als sechsjähriger Knirps fällt er dem FC Basel bei einem Hallenfussballturnier auf. Es sind die Zeiten, aus denen es Videos gibt, bei deren Betrachtung Petretta heute, als 20-Jähriger, schmunzeln muss: «Da renne ich eigentlich nur hinterher.»
14 Jahre später spielt Raoul Petretta Champions League. Somit hat sich ein Traum erfüllt, den sich ein Juniorenfussballer ausmalt, der vom neapolitanischen Vater die Liebe zu Juventus Turin übernommen hat. Und inzwischen ist Petretta noch vor dem ziemlich genau sechs Jahre älteren Taulant Xhaka, der in der gleichen Saison vom FC Concordia zum FCB kam, aber zwischendurch ausgeliehen war, der Spieler, der am längsten Rotblau trägt.
Umschulung in der U16: «Vielleicht war das entscheidend»
Die Geschichte beginnt mit einem Anruf des FC Basel beim Vater und dem Angebot für ein Probetraining. Der FCB – oder auch der SC Freiburg aus der Bundesliga –, die sagen dem Dreikäsehoch Petretta schon etwas, «aber man realisiert natürlich in dem Alter nicht, wie weit das gehen kann».
Wer sich damals vom FC Basel gemeldet hat – Petretta weiss es nicht mehr, und auch beim Namen seines ersten Trainers in der U7 des FCB weist das Gedächtnis Lücken auf. An die späteren Förderer beim FC Basel erinnert sich Petretta dagegen schon. Etwa an den renommierten Ausbildner Werner Mogg, über den Fabian Frei mal gesagt hat, wer ihn in der U16 überstehe, der habe das Zeug zum Profi. «Er ist eine Respektsperson», sagt Petretta, «es waren strenge Jahre, aber er hat mich umgeschult. Vielleicht war das entscheidend.»
Aus dem offensiv eingesetzten Petretta wird also ein Spieler, der seine Qualitäten vorderhand in der Defensive hat. Dann übernimmt Nachwuchschef Massimo Ceccaroni notfallartig die U21, in einer Phase, als Petretta seltener zum Einsatz kam. «Er hat auf mich gesetzt», sagt Petretta.
Petretta schliesst in Rheinfelden die Realschule ab, ein Jahr an der Minerva-Schule hängt er an, und für ihn steht damals schon fest, dass er voll auf die Karte Fussball setzt. «Papa hat immer gesagt: Mach, was du für richtig hältst. Solange du Freude hast, unterstützen wir dich. Und ich habe es durchgezogen.»
Beide Elternteile sind in Deutschland geboren. Sein Vater wurde mit acht Monaten nach Neapel verpflanzt, kam als junger Erwachsener zurück und arbeitet als Kaufmann. Im selben Betrieb wie Raoul Petrettas zwei Jahre älterer Bruder. Die Mutter ist Friseurin und sizilianischer Abstammung: «Sehr temperamentvoll», sagt ihr Sohn über sie und über seine Eltern: «Eine gute Mischung.»
Von der Traumfabrik in die erste Mannschaft
Über Jahr und Tag hinweg kennt Raul Petretta den Ablauf: Mit dem Zug eine halbe Stunde von Rheinfelden an den Badischen Bahnhof, von dort mit dem 36er-Bus bis zur Station St. Jakob und zum Nachwuchs-Campus. Knapp 20 Kilometer sind das zwischen dem südwestlichsten Zipfel Deutschlands und der Traumfabrik des FCB.
Dort trifft Petretta vor vier Jahren bei den U18-Junioren auf den Trainer-Novizen Raphael Wicky. Und der erkennt bald die Vorzüge des Spielers. «Ein sehr wohlerzogener Junge, der mit seinen Mitspielern und den Angestellten des Vereins immer sehr anständig und respektvoll umgeht», erinnert sich Wicky, «deshalb wird man natürlich kein Profi. Aber er hat Charaktereigenschaften dafür.»
Wicky fasst das so zusammen: «Er denkt für die Mannschaft und für die Mitspieler. Er ist ein technisch sehr guter, sehr intelligenter Spieler. Er kann das Spiel sehr gut lesen. Ich sehe in ihm extrem viel Fussball.» Und wahrscheinlich sieht Wicky in Petretta auch jenen mannschaftsdienlichen Spieler, als der er selbst eine schöne Karriere hingelegt hat.
Wicky über Petretta: «Ich weiss, was ich an ihm habe.» Und Petretta über Wicky: «Ich hatte noch nie einen Trainer, der mir so vertraut.»
Unter Urs Fischer schnuppert Petretta bei den Profis hinein, nach dem Wintertrainingslager gehört er zum Kader der ersten Mannschaft, am 4. Februar dieses Jahres debütiert er als Linksverteidiger über 90 Minuten gegen Lugano (4:0) und keine zwei Wochen später unterschreibt er seinen ersten Profivertrag mit Laufzeit bis 2020. Ausgehandelt hat die Vereinbarung der ehemalige FCB-Profi Maurizio Gaudino, der seit dem U16-Alter der Berater von Petretta ist.
Das blinde Verständnis mit dem Trainer
Der Einstieg in die aktuelle Saison ist schwierig für Petretta. Und das unter seinem Fürsprecher Wicky, der ebenso für den neuen Jugendstil beim FC Basel steht wie das Eigengewächs Petretta. Dass sich Wicky und Petretta seit vier Jahren kennen, der Trainer den Spieler «in- und auswändig kennt», wie Petretta sagt, «wir uns sozusagen blind verstehen», das bedeutet keinen Vorteil. «Ich war nicht auf dem Level, wo ich sein wollte. Vielleicht hatte ich ein bisschen Trainingsrückstand.»
Er nimmt in der U21 neuen Anlauf, holt sich in fünf Einsätzen in der Promotion League Rhythmus, kommt im Schweizer Cup zum Zug – um am 27. September völlig unvermittelt in der Champions League gegen Benfica in der Startelf aufzutauchen. «Das war nicht einfach so ein Geschenk», sagt Petretta, «ich musste mir das erarbeiten.»
Das 5:0-Spektakel und Petrettas stupende Leistung verändern einiges in der Wahrnehmung des Spielers. Er sticht damit im mannschaftsinternen Konkurrenzkampf vorerst Blas Riveros aus. Raphael Wicky sagt über Petretta: «Ich weiss, was ich an ihm habe.» Und Petretta sagt über Wicky: «Ich hatte noch nie einen Trainer, der mir so vertraut.»
Nach dem Benfica-Spiel wird Petretta zu Hause in Rheinfelden empfangen, «als ob ich Geburtstag oder die WM gewonnen hätte». Das Trikot mit der Rückennummer 28 und dem Champions-League-Signet bekommt die Mutter.
«Ich bin Italiener»
Damit ist der aufregende Herbst des Raoul Petretta allerdings noch längst nicht ausgefüllt. Kaum ist er ins europäische Schaufenster gestellt, meldet sich der italienische Fussballverband und bietet ihn für die U21-Nationalmannschaft auf. Noch ein Grund für die Petrettas, stolz zu sein auf ihren Spross. Und Petretta, der in Rheinfelden zur Welt kam und einen italienischen Pass hat, sagt über sich selbst: «Natürlich habe ich einen engen Bezug zu Deutschland und zu Basel. Aber ich bin Italiener.»
Weil die Adduktoren zwicken, fällt das Debüt bei den Azzurrini ins Wasser. Und zurück daheim muss Petretta vor dem Fernseher Italiens historisches Aus in der WM-Qualifikation miterleben. Wie viele Landsleute empfindet auch er das als «Schande», sagt aber auch: «Vielleicht hat es etwas Positives und verhilft den Jungen zum Durchbruch.»
Bis in die Squadra Azzurra ist der Weg weit, mindestens so weit wie in die Stammelf des FC Basel. «Die Berufung in die italienische U21 ist eine Belohnung für Raoul», sagt Raphael Wicky, «aber wichtig ist nun, sich nicht zurückzulehnen, sondern in den nächsten Monaten die Leistungen zu bestätigen.»
In einer WG mit Teamkollege Pululu
In der U21 wurde Petretta auch im defensiven Mittelfeld eingesetzt, und der FCB-Trainer hält es für möglich, «dass er in ein paar Jahren auch dort endet». Für den Moment sieht er ihn fast schon schwärmerisch an der richtigen Stelle: «Aussenverteidiger ist im modernen Fussball eine sehr schöne und wichtige Position mit vielen Ballkontakten.»
Woran Petretta («Ich bin vielleicht nicht der Schnellste») noch arbeiten muss, ist seine Physis. Bei seinen 1,70 Metern Körpergrösse bringt er 70 Kilogramm auf die Waage. Und den nächsten Schritt beim Flüggewerden hat er auch getan. Petretta ist zu Hause ausgezogen und hat mit Teamkollege Afimico Pululu eine Zwei-Zimmer-WG im FCB-eigenen Wohnhaus an der Lehenmattstrasse aufgemacht. Selbstversorgung und -verantwortung inklusive. «Mit zwanzig», sagt Petretta, «ist man kein junges Reh mehr.»
Das Spielerprofil und die Leistungsdaten von Raoul Petretta bei transfermarkt.ch