Kaum je zuvor war die Unsicherheit grösser, bevor Roger Federer an diesem späten Montagnachmittag in sein Lieblingsturnier einsteigt. Wimbledon – das ist der Garten Eden für den siebenmaligen Sieger, ein Ort der Inspiration und eine Kraftquelle. Die kann der Basler gebrauchen nach einem Jahr, das er als «teilweise eine Katastrophe» bezeichnet.
Vor Wimbledon ist es immer am schlimmsten. Die Spekulationen, das Geraune, die Gerüchte. Roger Federer weiss schon lange vorher, «dass dann wieder die ganze Palette an Fragen kommt»: Ist er zu alt geworden für die Weltspitze, ist er wirklich noch voll und ganz motiviert, nimmt das Familienleben ihn zu sehr in Beschlag?
Federer sass vor ein paar Tagen im Spielerhotel der Gerry Weber Open in Halle, er hatte spielfrei, und als er vorausblickte zu den Offenen Englischen Meisterschaften im Südwesten Londons, sagte er kopfschüttelnd, er müsse vorher die «silly season» überstehen, also die Blicke in die Glaskugel von selbsternannten Federer-Astrologen – und das, was dann in den Medien daraus gemacht wird. «Ich bin froh, wenn ich mein erstes Spiel habe, auf den Platz marschieren kann», sagt Federer.
Federer – vom Publikum ins Herz geschlossen wie keiner zuvor
Federer hat natürlich selbst dafür gesorgt, dass rund um die Rasen-Festivitäten im All England Club stets alle möglichen und unmöglichen Meinungen über ihn verbreitet werden – auch seit Jahren immer wieder die These, genau dies sei sein letztes Wimbledon-Turnier.
Federer hat eine ganze Ära in Wimbledon geprägt, er ist ein Teil Wimbledons geworden, eine lebende Legende beim Turnier der Turniere, einer auch, den die Briten wie kaum einen zweiten ausländischen Spieler vor ihm ins Herz geschlossen haben. Fakt ist, Federer weiss es selbst nur zu gut und genau: Alles, was Federer tut, sagt oder lässt beim Thema Wimbledon, ist Meldung und Schlagzeile wert, heisse Nachrichtenware.
«Ich wundere mich nicht darüber. Wimbledon ist nun einmal das Mass der Dinge», sagt Federer, «und Wimbledon ist auch für mich der Gradmesser für die Saison. Wenn ich in früheren Jahren dort gewonnen habe, war die Saison immer in Ordnung für mich.»
Es ist für Federer eine «holprige» und «komplizierte» Saison
Und nun, im Hier und Jetzt? Wäre Federer nicht Federer, der siebenmalige Champion und Publikumsliebling, dann wäre ein Auftritt abseits des ganz grossen Rampenlichts und auch der ganz grossen Erwartung gar nicht so abwegig. Federer hat ein Jahr der vielen Verletzungspausen hinter sich, grosse Teile der Saison 2016 hat er als unfreiwilliger Zuschauer erlebt.
Erst in der Rasensaison hat er sich wieder so richtig im Tourbetrieb zurückgemeldet, mit zwei Halbfinals bei den Wimbledon-Vorbereitungsturnieren in Stuttgart und Halle. Bei beiden Wettbewerben unterlag er gegen aufgehende Sterne der nächsten und übernächsten Generation, dem Österreicher Dominic Thiem und dem Deutschen Alexander Zverev.
Bevor er Halle verliess, sagte Federer, ganz Realist, ganz Pragmatiker: «Es ist ein Jahr, wie ich es bisher noch nicht kannte. Holprig, kompliziert, mit den Verletzungs-Enttäuschungen. Vieles ist neu für mich, auch die Tatsache, dass ich nach Wimbledon gehe, ohne einen Titel gewonnen zu haben in der Saison.»
Favoriten sind andere, sind Dominator Djokovic und Lokalmatador Murray
Federer hat noch eine weitere Schlussfolgerung aus dieser Serie 2016 deutlich angesprochen. Er fühlt sich für Wimbledon «natürlich nicht in einer Favoritenrolle»: «Ich glaube, da sind Novak Djokovic und Andy Murray in einer anderen Situation. Auch, weil sie regelmässig im Spielbetrieb drin waren.»
Was Federer nicht so offen sagte, was aber auch kein grosses Geheimnis ist: Wimbledon kann dieser Saison einen neuen Dreh geben, kann zur Geschichte eines Umschwungs werden – und auch helfen, die weiteren Herausforderungen im Jahr mit mehr Selbstvertrauen und grösserer Zuversicht anzugehen.
«Wimbledon ist immer eine Inspiration für Roger, eine Art Kraftquelle. Eine Gelegenheit, das eigene Ego aufzuladen», sagt der ehemalige australische Wimbledon-Champion und heutige TV-Experte Pat Cash, «man sollte nicht vergessen, dass Roger der Mann war, der Djokovic zuletzt am meisten bei den Titelläufen im Wege stand.»
Vier Jahre liegt Federers letzter Triumph in seinem Garten Eden zurück
Es hat auch mit der besonderen Wimbledon-Magie Federers zu tun, dass ihm in seinem einstigen Tennis-Paradies, diesem Garten Eden unter den Grand Slams, noch am ehesten ein weiterer Coup zugetraut wird – der 18. Major-Titel dann, ein Krönungsakt vier Jahre nach dem letzten Pokalgewinn im All England Club.
Die Endspiele von Wimbledon seit Roger Federers erstem Sieg 2003:
Die Übersicht über sämtliche Finals in Wimbledon seit 1877. (Bild: Wikipedia)
Damals trat Federer noch einmal in seiner Paraderolle auf, nämlich als Spielverderber für ganze Heere von Kollegen aller Gewichtsklassen – und 2012 ganz konkret im Finale für Lokalmatador Andy Murray.
Die Siegesmisson damals, sie war durchaus eine kleine Überraschung. Aber der Verblüffungseffekt wäre nun natürlich noch viel grösser, in einem Jahr, das Federer als «teilweise eine Katastrophe für mich» bezeichnet hat. Aber bei einem wie ihm weiss man nie.
Foto mit lebender Legende: Kaum einen ausländischen Spieler zuvor hat das Wimbledon-Publikum so ins Herz geschlossen wie den siebenmaligen Sieger Roger Federer. (Bild: Keystone/PETER KLAUNZER)