Schachspieler stehlen Stifte und naschen Nüsse

Sie denken, dass Schach im TV langweilig ist? Sie täuschen sich.

Sergey Karjakin looks at a virtual reality viewer during a news conference ahead of the 2016 World Chess Championship in New York City, U.S., November 10, 2016. REUTERS/Brendan McDermid

(Bild: Reuters/BRENDAN MCDERMID)

Sie denken, dass Schach im TV langweilig ist? Sie täuschen sich.

Es ist jedem selbst überlassen, was er unter der Woche an einem Abend im November macht. Eine Möglichkeit: Schach auf höchstem Niveau konsumieren. Und das während vieler Stunden, in denen sich der norwegische Titelhalter Magnus Carlsen und sein russischer Herausforderer Sergey Karjakin um den Weltmeistertitel duellieren.

Die ersten vier von maximal zwölf Partien endeten unentschieden. Noch ist also nichts passiert, ausser dass Carlsen zwei Möglichkeiten zur Führung ausliess. Und man muss zugeben, als unterdurchschnittlich talentierter Freizeitspieler beim Zuschauen immer mal wieder das Gefühl zu haben, dass es in diesem Duell einfach nicht vorwärtsgehen will.

Zudem versteht man das Gros der Analysen nicht. Beispielsweise warum es überraschend ist, dass Carlsen in Spiel 3 mit dem Königsbauern beginnt, mit einer der meist gespielten Eröffnungen überhaupt. Immerhin hält die Expertin nach dem dritten Zug von Weiss fest, dass es sich um die Spanische Partie handelt. Und man erinnert sich, diese Variante gegen den Redaktionskollegen aus dem Politik-Ressort auch schon gespielt zu haben. Versehentlich.

Karjakin und sein Sofa in der Lounge

Nicht nur wegen solcher Erkenntnisse sind diese Live-Übertragungen ein Erlebnis. Wer 15 amerikanische Dollar investiert, ist bei allen zwölf Partien dabei und kann aus verschiedenen Kameras auswählen. 

Der Zuschauer verfolgt so den Norweger, wie er eine Wasserflasche (Sponsor) nach der anderen leert und sein Jacket scheinbar ohne Regelmässigkeit aus- und wieder anzieht; und den Russen, der nach jedem zweiten Zug den Raum verlässt, sich auf dem Sofa in der Lounge erholt, dort auf und ab geht und nascht (wir vermuten: Nüsse) – oder wie er nach Spiel drei und vier versucht, den Organisatoren den roten Stift zu klauen:

Man ist froh um diese Momente. Sie mischen sich unter die Analysen der Ungarin Judit Polgar, die 1992 mit 15 Jahren und 4 Monaten Bobby Fischer als jüngsten Grossmeister ablöste, die vor fünf Jahren gegen Carlsens Herausforderer Karjakin eine Partie gewonnen und auch gegen den Weltmeister schon gespielt hat.

Polgar ist das konstante Element der Übertragung aus dem New Yorker Fulton Market Building, dem ehemaligen Gebäude eines umgezogenen Fischmarkts. Die anderen sind der norwegische TV-Gastgeber und die regelmässig zugeschaltete junge Moderatorin, die einerseits die Schachfans aus den Sozialen Medien mit einbezieht und andererseits Interviews in den Vorräumen führt. Dabei lernen wir auch, dass Schach für die Jugend besser sei als Candy Crush.

Der Albtraum des Grossmeisters Peter Svidler

Banalitäten in der ach so seriösen Welt des Schachs. Man schmunzelt und lauscht sofort wieder den Anekdoten der geladenen Gäste. Einer erzählt die Geschichte des russischen Grossmeisters Peter Svidler, der bei der Weltmeisterschaft 2004 Sekundant von Vladimir Kramnik war. In der Nacht vor der Partie sei Svidler schweissgebadet aus einem Albtraum aufgewacht und habe gewusst: Hier läuft etwas schief.

Das russische Team hat in der Vorbereitung offenbar den Hilfscomputer zu früh ausgeschaltet, als noch nicht genügend Variationen der Marshall-Verteidigung (in der Redaktion auch schon aus Versehen gespielt) berechnet waren. Prompt gelang Kramniks Herausforderer Peter Leko ein Sieg mit Schwarz, Svidlers Albtraum bewahrheitete sich.



Szene aus der Live-Übertragung: Wir sehen Magnus Carlsen in Gedanken über dem Brett – und Sergey Karjakin auf dem Sofa beim Naschen.

Szene aus der Live-Übertragung: Wir sehen Magnus Carlsen in Gedanken über dem Brett – und Sergey Karjakin auf dem Sofa beim Naschen. (Bild: Screenshot worldchess.com)

Neben solcher Geschichten lernt man, dass im Schach die gleiche Dopingliste gilt wie bei Athleten körperlicher Sportarten. Und dass in der traditionellen russischen Schachschule der Lehrsatz gilt: mit Schwarz Remis spielen, mit Weiss gewinnen.

Inzwischen ist Mitternacht. Vier Stunden Schach hat man da bereits konsumiert. Das reicht. Zeit, die nächste Partie gegen den Redaktionskollegen vorzubereiten.

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Am Mittwoch ruht die Schachweltmeisterschaft. Die nächste Chance, sich das Ganze einmal selbst anzusehen, haben Sie am Donnerstag. Auf dieser Seite sind Sie dabei: www.worldchess.com

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