Mit Platz 29 in der Qualifikation hat Simon Ammann die Hürde für das erste Springen in Oberstdorf an der 65. Vierschanzentournee genommen. Die Skispringerszene fragt sich, warum der 35-Jährige sich das noch antut.
Es ist für Simon Ammann vermutlich kein allzu grosser Trost, dass er bei der Tournee-Generalprobe in Engelberg zuletzt Peter Prevc hinter sich gelassen hatte. Peter Prevc, der Mann, der im vergangenen Winter etliche Weltcuprekorde pulverisiert hatte mit seinen 15 Saisonsiegen und 2303 Punkten, ist in diesem Winter bislang noch ein Schatten seiner selbst. Wer also den schwächelnden Slowenen überflügelt, muss deshalb selbst noch lange kein Überflieger sein.
» Ammann mit Platz 29 in der Qualifikation – im K.o.-Duell gegen Tepes
Der 24. Platz beim letzten Tournee-Formtest in Engelberg spiegelt vielmehr den aktuellen Leistungslevel des 35-jährigen Ammann wider. 25., 23., 21., 28., 38., 35., 24. – die Zahlen, die sein Flugschreiber auswirft, belegen deutlich, dass der Toggenburger augenblicklich bestenfalls zum Mittelmass zählt. Und dass ihm noch die Trendwende zum Guten gelingt, geschweige, dass er wieder alte Weiten erreicht, dafür gibt es vor der Vierschanzentournee keine Anzeichen.
30. Dezember: Oberstdorf, Grosse Schattenbergschanze | 143,5 m, Sigurd Pettersen (2003)
1. Januar: Garmisch-Partenkirchen, Olympiaschanze | 143,5 m, Simon Ammann (2010)
4. Januar, Innsbruck, Bergiselschanze | 138 m, Michael Hayböck (2015)
6. Januar, Bischofshofen, Paul-Aussenleitner-Schanze | 143 m, Daiki Ito (2005)
Selbst Experten und Wegbegleiter, die dem beliebten Schweizer wohlgesonnen sind, meinen mittlerweile, Simon Ammann habe den richtigen Zeitpunkt für den Absprung ins Privatleben verpasst. Eine triumphale Rückkehr, wie sie zum Beispiel der nimmermüde Japaner Noriaki Kasai eindrucksvoll vorexerziert hat, der im März mit 43 Jahren noch auf das Siegespodest gesprungen war, traut dem ehemals besten Skispringer der Welt jedenfalls kaum noch einer zu.
Warum tut sich Simon Ammann das noch an?
Jahrelang hatte der vierfache Olympiasieger in den Tagen vor der Vierschanzentournee immerfort nur eine Frage beantworten müssen. Wann er, der in seiner Karriere nahezu alles gewonnen hat, was es auf Sprungschanzen zu gewinnen gibt, denn endlich auch einmal bei der prestigeträchtigen Tournee ganz oben stehen würde. Mit solchen Themen wird Ammann längst nicht mehr belästigt, seit seinem folgenschweren Sturz vor zwei Jahren beim Tourneefinale in Bischofshofen fragen sich vielmehr alle, wieso sich der 35-Jährige das alles überhaupt noch antut.
… aber mit seiner Landung gewinnt Simon Ammann keinen Blumentopf mehr. (Bild: Keystone/URS FLUEELER)
Mehrere Tage war der Toggenburger damals im Krankenhaus gelegen, nachdem er beim Landemanöver kopfüber in den eisigen Auslauf gekracht war. Da Ammann zuvor schon öfter auf ähnliche Weise zur Sturz gekommen war, nahm er das Unglück zum Anlass, um auf seine alten Tage noch einmal die Landetechnik umzustellen – vom linken auf das rechte Führbein. Das ist so ziemlich der gravierendste und schwierigste Eingriff, den ein erfahrener Skispringer vornehmen kann. Am ehesten vergleichbar damit, als würde Roger Federer von einem Tag auf den anderen sein Racket mit der linken Hand schwingen wollen.
Eine Stil-Ikone wird aus dem Routinier ganz bestimmt nicht mehr werden, dass ein Wertungsrichter für einen Ammann-Telemark noch einmal die Haltungsnote 20,0 zückt, ist ungefähr so wahrscheinlich wie die Verlegung des Neujahrsspringens von Garmisch-Partenkirchen auf den Bergisel nach Innsbruck. Das ist ja auch das grosse Dilemma des Weltmeisters und Olympiasiegers: Bei seinen Haltungsnoten von 16,0 müsste Simon Ammann den Gegnern bei jedem Sprung mindestens fünf Meter abnehmen, um konkurrenzfähig zu sein.
Es gibt keinen Springer mit Dauerwohnsitz auf Wolke sieben
Dass er trotzdem nicht aufgibt und immer noch gute Laune verbreitet, das erstaunt nicht nur die Experten und Konkurrenten. «Ich bin selbst immer wieder erstaunt, wie ich mich trotz aller Rückschläge weitertragen lasse», sagt Simon Ammann.
Die Gesamtsieger der Vierschanzentournee seit 1953 | Alle Tagessieger | ||
Die Sieger der letzten 10 Jahre | ||
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2015/16 | Peter Prevc | Slowenien |
2014/15 | Stefan Kraft | Österreich |
2013/14 | Thomas Diethart | Österreich |
2012/13 | Gregor Schlierenzauer | Österreich |
2011/12 | Gregor Schlierenzauer | Österreich |
2010/11 | Thomas Morgenstern | Österreich |
2009/10 | Andreas Kofler | Österreich |
2008/09 | Wolfgang Loitzl | Österreich |
2007/08 | Janne Ahonen | Finnland |
2006/07 | Anders Jacobsen | Norwegen |
Die Geschichte von Simon Ammann macht einmal mehr deutlich, wie sensibel der Skisprungsport ist. Es gibt keinen Springer, der seinen Hauptwohnsitz permanent auf Wolke sieben hatte, früher oder später ist noch jeder Seriensieger und Superstar auf dem harten Boden der Realität gelandet.
Der Österreicher Gregor Schlierenzauer, mit 53 Weltcupsiegen die Nummer eins in der ewigen Bestenliste: Stellte sich mit 26 die Sinnfrage und kämpft nun nach einem Kreuzbandriss um seine Rückkehr in den Weltcup. Oder Thomas Diethart, der niederösterreichische Senkrechtstarter, der 2014 aus heiterem Himmel als Nobody die Tournee gewann: Ist mittlerweile schon froh, wenn er im sogenannten FIS-Cup, der dritten Leistungsstufe der Skispringer, in den Finaldurchgang kommt.
«Bei meinem Tourneesieg habe ich den Kopf ausgeschaltet und mich einfach treiben lassen. Das ist der Idealzustand für jeden Skispringer. Wenn du zu denken anfängst und dir über alles Gedanken machst, dann hast du schon verloren», erklärt Diethart.
Die Unberechenbarkeit des Skispringens
Peter Prevc ist das jüngste Beispiel für die Launen und die Unberechenbarkeit in dem so wankelmütigen Sport namens Skispringen. Binnen weniger Wochen sind dem 24-jährigen Slowenen seine traumwandlerische Sicherheit und sein unerschütterliches Selbstvertrauen abhanden gekommen.
Beim Weltcupauftakt in Kuusamo war Prevc auf dem Weg zum sicheren Sieg bei der Landung zu Sturz gekommen und trotzdem noch Dritter geworden. Das Malheur hat den Superstar trotzdem aus allen Wolken fliegen lassen, zuletzt in Engelberg reichte es nicht einmal mehr für Weltcuppunkte, bei der Tournee muss Prevc als Weltcup-13. genauso in die Qualifikation wie Simon Ammann (Rang 28).
«Das ist ein Phänomen im Skispringen. Im letzten Winter hätte man ihn mitten in der Nacht aufwecken können und er hätte seine Sprünge runtergetrommelt. Aber wehe du fängst an zu zweifeln, dann wird es schwierig», sagt Werner Schuster, der Cheftrainer der deutschen Skispringer, «ich vergleiche das gerne mit dem Golf: Wenn da einer beim ersten Loch den Ball ins Wasser drischt, dann kann er eigentlich immer noch eine tolle Runde spielen. Aber meist hat so ein Erlebnis dann den gegenteiligen Effekt und es wird immer schlechter.»
Domen Prevc: Der Nächste im seelischen Idealzutand
Immerhin springt ein Prevc für den Tournee-Gesamtsieger des letzten Winters in die Bresche. Domen, der 17-jährige Bruder, agiert in dieser Saison bislang ähnlich dominant wie Peter Prevc vor einem Jahr. Vier Siege hat der unbekümmerte Teenager, der in der Luft so spektakulär und wagemutig wie kein anderer zwischen den Skiern klemmt, bereits eingefahren und reist als Top-Favorit zum Tourneeauftakt nach Oberstdorf (30.Dezember).
Werner Schuster vergleicht den Senkrechtstarter bereits mit Formel 1-Rookie Max Verstappen: «Domen Prevc springt Ski, wie Max Verstappen Formel 1 fährt», sagt der Vorarlberger, «aber so kannst du nur Skispringen, wenn du noch nie mit 250 gegen die Mauer gefahren bist. Domen hat vermutlich keine Negativerlebnisse, so wie er springt: Er kennt keine Grenzen.»
Tatsächlich scheint sich Domen Prevc gerade in jenem seelischen Idealzustand zu befinden, den alle Skispringer anstreben. Und den gerade Winnertypen wie Gregor Schlierenzauer, Peter Prevc oder auch Simon Ammann zur Genüge kennen. Domen Prevc fliegt derzeit in eigenen Sphären, geradewegs so als hätte er den Autopiloten eingeschaltet.
«Mein Kopf ist frei. Ich spüre nicht, dass man von mir besondere Dinge erwartet. Klar will ich gewinnen, aber es kümmert und beschäftigt mich nicht wirklich. Wenn ich gewinne, ist es okay, wenn nicht, fahre ich halt nach Hause. Ich habe keinen Druck, Erster zu sein», sagt der 17-Jährige, «ich habe einfach Lust zu springen.»