An der Euro 2012 wird am Sonntag in Kiew (20.45 Uhr) der Europameister unter Titelverteidiger Spanien und Italien ausgemacht. Spanien nobler Nationaltrainer Vicente del Bosque kann mit seiner Mannschaft dabei in die Geschichtsbücher eingehen.
Die schwerste Aufgabe steht den spanischen Fussball-Nationalspielern erst bevor, wenn sie am Sonntagabend in Kiew ihren Europameistertitel verteidigt haben sollten. Dann nämlich dürften die leichtfüssigen Profis aus Madrid, Barcelona, Valencia oder Sevilla wie schon vor zwei Jahren nach der Eroberung des Weltpokals versuchen, ihren Trainer auf Händen zu tragen.
Ein wahrer Belastungstest nach vermutlich schwerster Arbeit gegen den Finalgegner Italien. Schliesslich ist Vicente del Bosque kein Leichtgewicht – als Trainer und als gestandener Mann, der aus der Fülle seiner Lebenserfahrungen schöpft. Mit vereinten Kräften werden die Welt- und Europameister im Fall des Falles aber auch diesen letzten Test auf ihre Belastbarkeit überstehen, zumal sie ihren Chef lieben und verehren.
Ein Trainer bleibt sich treu
Del Bosque war in den siebziger und achtziger Jahren unter anderem an der Seite von Günter Netzer, Paul Breitner und Uli Stielike ein Meisterspieler bei Real Madrid, später (1999 bis 2003) ein Meistertrainer seines Clubs mit jeweils zwei Titeln als Klassenbester der Primera División und der Champions League, ehe ihn der galaktisch verblendete Präsident Florentino Perez auf unwürdige Art entliess.
Inzwischen ist dieser Vicente del Bosque seit 2008 so etwas wie der Meister aller Meister unter den Nationaltrainern. Doch als Boss, Besserwisser oder gar Allesversteher spielt sich der aus der zentralspanischen Universitätsstadt Salamanca kommende Gentleman mit Schnauzbart nie auf. Er bleibt sich immer treu – wie bei dieser EM, bei der die jahrelang als Übermannschaft gefeierten Iberer erstmals auch mit Pfiffen der zahlenden Kundschaft fertig werden mussten.
Selbstverliebte Demonstration
Das betrachtet del Bosque aus seiner Sicht zu Recht als unfair, doch der Einundsechzigjährige hat sich deswegen trotzdem nicht aus seiner chronischen Ruhe bringen lassen. «Wir waren wohl zu lange arm und wurden dann zu schnell reich», hat er den Kritikern auf der Tribüne und in den Medien kurz zugerufen, «jetzt wissen wir nicht mehr zu schätzen, was wir haben.
Dabei ist der lautstarke Reflex auf so manche selbstgenügsame bis selbstverliebte Demonstration spanischer Fussball-Überlegenheit keineswegs unverständlich, weil das Tiki-Taka-Kurzpassfestival der Xavi, Iniesta, Silva meistens zuerst der Kontrolle über das Spielgeschehen gilt und erst danach der Entwicklung eines Angriffszuges über viele Stationen.
Das atmet nur noch selten den frischen Elan der frühen Jahre, in denen del Bosques Vorgänger Luis Aragones, damals in einem 4-1-4-1-System, Spanien 2008 zum Europameister machte und dessen Nachfolger del Bosque die Seleccion 2010 in einer 4-2-3-1-Formation auf den Weltgipfel führte. In Polen und der Ukraine kamen die hochherrschaftlichen Spanier längst nicht mehr so souverän und phantasievoll des Weges wie in den Jahren des Aufstiegs zur Spitze, aber sie waren allemal stark genug, sich diejenigen vom Leibe zu halten, die sie vom Thron stürzen wollten.
Italiens zweite Chance
Italien hielt neben den im Halbfinale erst nach dem Elfmeterschiessen besiegten Portugisen beim 1:1 im Spiel der Gruppe C am besten mit – und bekommt am Sonntag seine zweite Chance, die Regentschaft der «Furia Roja» fürs erste zu beenden.
Auch dann geriete die Welt des Vicente del Bosque nicht ein bisschen aus den Fugen. Der 2011 von König Juan Carlos wegen seiner Verdienste um den spanischen Fussball und seiner herausragenden Persönlichkeit in den Adelsstand erhobene «Illustrisimo Senor Marqués de del Bosque» pflegt bei den vielen Siegen und wenigen Niederlagen seiner Mannschaft stets nobel, zurückhaltend und bescheiden zu bleiben.
Del Bosques Credo
«Der Weg der Arroganz führt nirgendwo hin», hat der wertkonservative Sozialist der «Welt am Sonntag» vor der EM in einem Interview gesagt, «am Ende des Tages bin ich nur ein Fussballtrainer, und sie (seine Auserwählten) sind nur Fussballspieler.» Die aber leben das Credo ihres Vorgesetzten mit einer Selbstverständlichkeit, die schon in den Jugendakademien der Clubs, voran La Masía, das Ausbildungszentrum des FC Barcelona, gelehrt wird. In aller Bescheidenheit die Besten weltweit: So ist das spanische Spitzenprodukt eines professionellen und menschlichen exzellenten Umgangs miteinander gereift.
Es ist del Bosques Verdienst, die durchaus starken Egos seiner Stars, noch dazu gelegentlich aufgeheizt durch die Rivalität der beiden Spitzenclubs Real Madrid und FC Barcelona, ins grosse Ganze zu integrieren. Xavi und Iker Casillas, die Kapitäne der beiden führenden Vereinsteams, sind auch vor dieser EM wie selbstverständlich del Bosques erste Helfer im Austarieren von Gegensätzen der gemeinsamen Mission zuliebe. Beide stehen wie alle spanischen Welt- und Europameister zur Grundidee des eigenen Spiels: viel Ballbesitz, viele Kurzpässe, viel Spielkontrolle.
Spanien hat sich bei diesem Turnier wie auch schon bei der WM 2010 dank seiner exquisiten Defensive mit den Protagonisten Casillas, Piqué und Sergio Ramos vorneweg als bisher unschlagbarer Titelverteidiger erwiesen. Noch hat niemand den Königsweg gefunden, die spanische Wand (nur ein Gegentor) zu durchbrechen.
Die Trilogie für die Geschichtsbücher
Bis dahin aber gilt del Bosques Glaubenssatz, den er nach dem 2:0 im Viertelfinale über Frankreich formulierte: «Wenn unsere Abwehr stark ist, ist der Sieg in diesem Turnier in Reichweite, denn vorn bekommen wir immer unsere Chancen.»
Einmal noch muss Spanien dieser These Taten folgen lassen, dann hat del Bosques bestes Aufgebot Einmaliges geschafft: die Trilogie der Triumphe. Europameister, Weltmeister, Europameister binnen vier Jahren – es wäre eine Rekordmarke für die Fussball-Geschichtsbücher.
«Wir haben das Glück», sagt Spaniens humaner Fussball-Lehrmeister, «über eine wunderbare Generation von Fussballern zu verfügen. Spieler, die nicht nur mit Talent gesegnet sind, sondern auch einen sehr anständigen Charakter haben.» So spricht der Vater des Erfolgs über Stars, die seine Söhne sein könnten.