Wo eine Schwäche sich gleichzeitig in eine Stärke verwandelt: Wie das klassische Ballett zur Leidenschaft des behinderten Paul Voegtlin wurde.
Paul ist 13 Jahre alt. Paul tanzt Ballett. Paul hat das Down-Syndrom. Paul ist nicht behindert. Wenn er mit herausgestreckter Brust diagonal durch den Raum gleitet, wie eine Pusteblume abhebt und dabei seine Füsse gestreckt den Boden verlassen, dann gibt es nichts anderes. Keine Leseschwäche, keine disziplinarischen Anforderungen, keine Grenzen. Paul will nicht behindert sein. Auch nicht im Alltag: Wenn er im Bus ein Behindertenschild sieht, geht er dem sehr bewusst aus dem Weg und sagt, das habe nichts mit ihm zu tun.
Angefangen hat Pauls Tanzleben in seinem dritten Lebensjahr. «Ich hätte ihn eigentlich gerne Fussball spielen sehen, wie andere Jungs eben», erklärt seine Mutter Sandrine Voegelin, «auch um ihn vor noch mehr Andersartigkeit und Ausgrenzung zu schützen.» Paul hat seiner Mutter dann aber schnell gezeigt, dass er diesen Schutz nicht braucht, dass er stark ist und dass er tanzen will.
Im Gegensatz zur Schule wurde das Ballett schnell zum Ort, wo Paul zu den Besten gehört. Er kann seine Gefühle sehr kreativ in Bewegungen umsetzen. «Von der Art, wie Paul sich im Raum bewegt, können wir alle viel lernen», sagt seine Tanzlehrerin Loya Molloy vom Chronos Movement Tanzstudio in der Elisabethenstrasse. Und auch akrobatisch machen ihm viele Gleichaltrige nichts vor: Rad, Rondat und Spagat führt er lehrbuchmässig aus.
Frei und hemmungslos
Schwierig wird es für den 13-Jährigen, wenn er sich etwas einprägen muss, wenn die Disziplin ins Spiel kommt. Bei einer klaren Schrittabfolge kommt Paul ins Stocken. Das bleibt ihm nicht. Dies gilt auch ausserhalb des Tanzstudios: «Den Weg zum Ballett mussten wir etwa ein Jahr lang üben, und es ist auch heute noch ein Stress, ob er nach Hause kommt oder ob ihm vielleicht doch mehr nach ein bisschen Tramfahren ist», erklärt Sandrine Voegelin. Paul geht oft nach dem Lustprinzip vor.
Seine Schwäche ist gleichzeitig auch seine Stärke. Paul bewegt sich frei und hemmungslos. «Ich dachte schon, dass freier Tanz vielleicht eher das Richtige wäre für Paul», sagt Tanzlehrerin Molloy. «Aber wer bin ich, das zu entscheiden.» Paul hat sich für die Strukturiertheit des klassischen Balletts entschieden. «Ich mag es, wenn man mir genau sagt, was ich tun muss.» Hier kann er an seinen Schwächen arbeiten und seine Stärken ausleben.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 05.07.13