Toni Innauer: «Spitzensport ist gnadenlos»

Der Österreicher Anton Innauer (53) über gedopte Sportler, dicke Kinder, überforderte Jungstars und die Krisen in Sport und Gesellschaft.

Der 53-jährige Toni Innauer 2012: Ikone des Skispringens und nachdenklicher Beobachter des Hochleistungssports. (Bild: Imago Sportfoto)

Der Österreicher Anton Innauer (53) über gedopte Sportler, dicke Kinder, überforderte Jungstars und die Krisen in Sport und Gesellschaft.

Anton Innauer ist stolz und aufgeregt wie jeder Jungunternehmer, der bald sein neues Büro beziehen und loslegen kann. Eben wurde die Hardware in der frisch gegründeten Firma Innauer+(f)acts OG installiert, in der ersten Januar-Woche nimmt der langjährige Sportdirektor des österreichischen Skiverbandes seine Mentor- und Beratertätigkeit auf. Zuvor analysiert Innauer für das ZDF die Tourneespringen in Garmisch und Innsbruck.

Toni Innauer, was ist los, ist Ihnen ohne Springen etwa langweilig am ersten Tag des Jahres?

Anton Innauer: Ich muss zugeben. Es war letztes Jahr nicht schlecht, einmal den ersten Januar nur familiär gestalten zu können. Das war ungewohntes Freiheitsgefühl und das erste Mal seit 30 Jahren.

Inwieweit hat es Ihnen gut getan, den Spitzensport hinter sich zu lassen?

Ich bin nicht mehr chronisch unter Erfolgszwang und auf dem Radar der Öffentlichkeit und muss nicht jeden Montag die Leistungen der Springer und Kombinierer kommentieren. Das ist eine Erleichterung. Durch die Distanz habe ich auch feststellen können: Es war höchste Zeit und der richtige Entschluss, in meinem Leben eine Kursänderung vorzunehmen. Ohne aber mein Grundinteresse, meinen Instinkt für den Spitzensport verloren zu haben. Das bleibt Teil meiner Kernpersönlichkeit.

Was interessiert, was fasziniert Sie am Sport?

Das Grundkonzept eines ehrlichen, fairen Leistungsprinzips, das aber leider vielfach durch Erfolgswahn ruiniert wird. Grundsätzlich hat mich der Spitzensport immer mehr in seiner Tiefe und den Schnittstellen zur Gesellschaft interessiert. Deswegen Vorträge und Seminare, die ich in den letzten Jahren gehalten habe, mein letztes Buch «Am Puls des Erfolgs». Ich bin ein Vermittler zwischen den beiden Kulturen, dem Mikrokosmos Leistungssport und dem normalen Beruf- und Wirtschaftsleben. Der Sport ist ja ein gutes Spiegelbild von gesellschaftlichen Phänomenen und Entwicklungen.

Und was sehen Sie?

Das Interessante ist: An einer intensiven Diskussion ist ja niemand interessiert, wenn persönliche Vorteile kurzfristig gesichert scheinen. Erst dann, wenn es wirklich bedrohlich wird, kommt das Bedürfnis nach Reflexion, nach grundsätzlichen Lösungen: Warum gibt’s die Krise, wo sind die Wurzeln des Dopingproblems, woher kommen Burn-outs und Depression auch im Sport und, und, und.

Wieso gibt es inzwischen so viele Fälle, in denen sich Trainer oder Athleten ausgebrannt fühlen?

Der Sport ist Teil eines immer schnelleren Marktsystems geworden. Nur Sportler mit stabilen inneren Strukturen oder perfekter, durchgängiger Betreuung, einem emotionalen Schutzkokon sind dem auf Dauer gewachsen. Die verschiedenen Rollen, denen ein Sportler heute gerecht werden muss, gehen über das hinaus, was der Sportler als Einzelner noch alleine verarbeiten kann. Nehmen wir zum Beispiel den Fussball.

Wieso Fussball?

Fussballklubs haben ja mancherorts Religionscharakter, sie haben unfreiwillig sozialmedizinische Verantwortung. Ob einer ein Tor schiesst, ob einer einen Ball reinlässt, das steuert Lust und Frust von Zehntausenden. Früher hätte man gelacht darüber. Aber heute geht’s um gewaltige Summen, die Börsenkurse der Klubs hängen davon ab. In so einem Umfeld kann jemand, der sich heldenhaft dazu entschliesst, perfekt zu sein, die Aussenerwartungen zu erfüllen und dabei seine eigenen Gefühle und Ängste als Warnsysteme abspaltet, ins Trudeln geraten.

Ist es nicht menschlich, dass junge Sportler scheitern? Wie soll ein 17-Jähriger damit fertig werden, wenn er als Star gefeiert wird?

Glauben Sie mir, das war schon vor 30 Jahren nicht so einfach, als jugendlicher Nobody, zum Sportstar katapultiert und hochgejubelt zu werden.

Sie sprechen vom jungen Anton Innauer?

Ja. Heutzutage heissen sie Marko Arnautovic (österreichischer Nationalspieler von Werder Bremen; Anm. der Red.) und anders. Plötzlich wird man auf der Strasse erkannt, das ist cool aber anstrengend, weil die Sozialkompetenz im Umgang damit fehlt. Fussballer werden mehr als andere sehr früh kulturell umgetopft, alles geht rasend schnell: In Profiligen verlieren die «Zukunftsaktien» bevor sie irgendwas gerissen haben, den Bezug zu Arbeit und gerechtem Lohn, haben Homepages, Facebook-Fangemeinden, und als Mentor hoffentlich einen erfahrenen Berater, Trainer und eine intakte Kernfamilie und ehrliche Freunde.

Wie erging es dem jungen Anton Innauer?

Ich bin wirklich aus dem Wald rausgekommen, vom Berg herunter. Ich war schüchtern, alles war für mich eine Riesenüberwindung. Plötzlich genötigt zu sein, mit Leuten zu reden, mit denen ich gar nicht reden will. Und wenn ich’s nicht getan habe, dann bin ich der Grantscherben gewesen (ein ewig schlecht gelaunter Mensch, wie der Österreicher sagt; Anm. der Red.). Für mich war das damals sozial eine völlige Überforderung. Ich hatte damals die Fertigkeiten und Erfahrung auch nicht, woher auch?

Burn-out, Leistungsdruck, Doping und, und, und – ist der Sport gnadenlos?

Nicht der Sport an sich. Aber der Spitzensport, der absolute Hochleistungssport, der ist grundsätzlich gnadenlos. So wie übrigens jede Wettbewerbsgesellschaft, in dem Systeminteressen, der Markt oder der Staat über den Einzelnen gesetzt werden. Sport kann nur humanisiert werden durch die verschiedenen Personen, die darin agieren, durch die Art die Spielregeln zu definieren und zu kontrollieren, durch verantwortungsbewusste Betreuer, die erkennen, dass zum Beispiel Gesundheitsprobleme nicht einfach als «Part of the Game» hinzunehmen sind, sondern persönliche Initiative erfordern.

Ist das nicht ein reichlich hehrer Wunsch?

Eine Vorstellung, die ich 30 Jahre versucht habe mit einigen Gleichgesinnten zu leben.

Sind Sie desillusioniert?

Nicht nur. Ich sehe viele Inseln mit tollen Ansätzen, sogar im Alpinrennsport ist die Zeit des kollektiven Wegschauens bei Verletzungen endlich vorbei. Wie die österreichischen Kombinierer oder die Springer arbeiten, wie jetzt auch bei den Springern in Deutschland gearbeitet wird. Da sind tolle Persönlichkeiten am Werk, mit einem hervorragenden Knowhow und bewusstem Sportethos. Wo es nicht um jeden Preis nur um den Erfolg geht und Kollateralschäden nicht einfach verdrängt werden.

Themenwechsel: Sie schreiben in Ihrem Buch von den Parallelen zwischen Sport und Gesellschaft: Nennen Sie ein Beispiel?

Eine grosse Parallele, die ich eins zu eins im Sport, Wirtschaft oder Politik wahrzunehmen glaube: Substanzielle Änderungen passieren meist erst auf den letzten Drücker. Obwohl man sachlich und vor den Sitzungen genau weiss, dass Änderungen unabwendbar sind, dass es eigentlich gar nicht mehr anders geht, passiert doch nichts. Es wird erst dann was verändert, wenn das Gesamtsystem und damit auch kurzfristige Vorteile gefährdet werden. Wir mussten auch im Skispringen diese Erfahrungen machen.

Zum Beispiel beim Körpergewicht im Skispringen?

Genau. Die Springer waren gesundheitlich bedroht durch das Runterhungern, die haben schlecht ausgeschaut, hatten eine vernichtende Presse, ein schlechtes Image – erst dann wurde gehandelt, obwohl diese Gefahr schon lange bekannt und Lösungen bereit lagen. Das ist in der Wirtschaft ähnlich: Bevor nicht wirklich der Hut komplett brennt, wird nichts gemacht. Der Sport ist eine vergleichsweise reduzierte Wirklichkeit, man kann relativ schnell Änderungen von sportglobaler Tragweite vornehmen. Die Antidopinganstrengungen laufen international aber oft ins Leere, zu unterschiedlich werden die Regeln interpretiert und zu wenig einheitlich ist die Ernsthaftigkeit der Bemühungen in den verschiedenen Ländern. Analog dazu scheitert der EU-Versuch, die globalen Finanzspekulanten an die Leine zu nehmen, schon am Veto Grossbritanniens. In der grossen Welt möchten viele auch weiterhin Profiteur eines Systems sein, welches Gemeinwohlinteressen völlig ignoriert und gefährdet.

Sie schreiben weiter: Ein fairer Sportler könne einpacken. Ist das Ihr Ernst?

In manchen Sportarten ist es sicher so. Ich hatte gerade erst ein interessantes Erlebnis, das weiterführend zeigt, dass Erfolge, die erreicht wurden, indem man betrogen hat, nicht nur glücklich machen.

Erzählen Sie.

Ich war in Suhl, zusammen mit Hans-Georg Aschenbach (Anm: ein Ex- Skispringer aus der DDR) bei einer Podiumsdiskussion vor 600 Sportinteressierten und ich war beeindruckt von der Grösse, mit der er auch vor Ex-Kollegen sagte: «Meine Medaillen sind mir nichts wert, weil ich sie gedopt errungen habe. Ich habe sie alle verschenkt, weil sie mich nicht interessieren. Ich mag mich nicht mehr damit identifizieren.»

Mit dieser Einstellung ist Aschenbach aber eine Ausnahme.

Ja, und zwar eine wertvolle! Dieses Beispiel zeigt, dass bei manchen der Zeitpunkt kommt, wo sie sich wieder in den Spiegel schauen wollen und reinen Tisch machen. Aufarbeitung ist unbequem aber für junge Beobachter wichtig. Darum bin ich auch dafür, dass die vielen Unbelehrbaren auch nachträglich geahndet werden können falls es neue Nachweismethoden gibt, um jemanden nachträglich zu entlarven. Wobei dann sicher einige wieder aufschreien und sagen: «Wen interessiert’s?»

Und wen interessiert es wirklich?

Meines Erachtens muss dieses Spiel mit der Zeit und zukünftigen Nachweismethoden im Interesse des Sports sein. Für mich wäre das mittelfristig eine der wenigen Hoffnungen, wenn man das Problem eindämmen will: Das macht das Risiko für Sportbetrüger unberechenbar, «Nach mir die Sintflut» – gilt dann nicht mehr.

Können Sie also nachvollziehen, dass in Österreich eine Stefanie Graf oder Christian Hoffmann nachträglich lange Sperren gefasst haben, obwohl von ihnen kein positiver Dopingtest vorliegt?

Vom Prinzip der Prävention ja, wenn das Verfahren korrekt war. Damit man nicht jenen Vorschub leistet, die glauben: «Ich brauch nur zwei Jahre Glück. Oder in den letzten Jahren meiner Karriere scheiss’ ich mich nichts mehr.»’ Weil sie damit immer wieder Benchmarks setzen, für jene Hasardeure die nachkommen: Die Unsicherheit für Sportbetrüger zu erhöhen, ist sicher eine wesentliche Methode.

Kann Sich jemand wie Sie eigentlich für die Tour de France begeistern?

Ich sag’s ganz ehrlich: Bei mir schwingt beim Zuschauen bei vielen Sportarten ein Staunen mit, aber auch eine gewisse Ungläubigkeit. Als ein Mensch, der selbst viel trainiert hat und gemerkt hat, wo man an seine Grenzen stösst, hat man ein Gefühl dafür, was menschlich möglich ist und was übermenschlich ist. Und zur Tour de France: Ich bin der Meinung, dass der Radsport eine Bringschuld hat, auch gegenüber all den ehrlich begeisterten Nachwuchstalenten. Die Profis müssen sich einiges einfallen lassen, um die Glaubwürdigkeit nicht nur bei mir zurück zu gewinnen. Aber mich erschrecken noch ganz andere Dinge.

Nämlich?

Meldungen wie eine aktuelle Untersuchung: Die Kinder werden immer dicker und sind bedenklich bewegungsgestört. Als gelernter Leibeserzieher schockiert mich, wie sich menschliches Grundrepertoire während einer Generation durch die geänderten Rahmenbedingungen dermassen verschlechtert, sich wesentliche Voraussetzungen für eine gesunde Entwicklung in Luft auflösen. Der degenerierte Bezug zur eigenen Körperlichkeit wirkt sich oft auf die Psyche aus – das gibt vielschichtige Probleme, die wir volkswirtschaftlich irgendwann stemmen müssen, wenn wir sie nicht die kluge Verbindung mit Bildung schaffen.

Der Ruf nach der täglichen Turnstunde?

Beides, der Ruf nach Investition in Bildung und tägliche Bewegungsstunde. Da rede ich gar nicht von Sport, sondern von Körperbezug. Das ist eine Offensive, die kommen muss, weil viele Kinder natürliches Umfeld und Vorbilder verloren haben und weil es im Freien keine Steckdosen gibt. Der Trend ist schockierender Weise im ländlichen Bereich am deutlichsten. Aber da sind wir wieder beim Thema: Jeder weiss, dass es dieses Problem gibt, alle sehen es, aber gehandelt wird vermutlich erst, wenn es schon viel Zeit vertan ist.

Herr Innauer, ganz ehrlich. Haben Sie Sich mit Ihren klaren Aussagen, mit Ihrem Buch nur Freunde gemacht?

Ich bin viel öfter darauf angesprochen worden, dass ich sehr zurückhaltend war. Bis auf eine Person hat sich niemand direkt bei mir beschwert, aber manche, die verschnupft sind, haben sich vermutlich nicht die Mühe gemacht den Puls des Erfolges lesen, dann müssten sie ihr Urteil nämlich revidieren. Sie würden entdecken, dass es mir viel mehr um Zusammenhänge, Trends und Prinzipien geht, als um deren Verkörperungen. Es war es mein Bemühen, den Bogen der Ironie nicht zu überspannen, was bei vielen Lesern im Übrigen auch gut angekommen ist.

Anton «Toni» Innauer stammt aus Bezau am Vorarlberg und erhält seine sportliche Ausbildung im Skigymnasium Stams (Tirol). Bei Olympia 1980 in Lake Placid feiert er den größten Erfolg mit der dem Gewinn der Goldmedaille auf der Normalschanze. 1982 beginnt er nach Ende der aktiven Karriere Sportwissenschaften, Philosophie und Psychologie zu studieren. 1987 wird er Springertrainer, ist von 1989 bis 1992 Cheftrainer der österreichischen Nationalmannschaft und ab 1993  Rennsportdirektor für den nordischen Skisport im ÖSV. Im Februar 2001 übernimmt Innauer auch wieder als Nationaltrainer, nachdem sein Freund und damaliger ÖSV-Cheftrainer Alois Lipburger tödlich verunglückte. Am 10. März 2010 gibt Innauer seinen Rücktritt beim ÖSV bekannt. Von Innauer stammt das Buch «Kritischer Punkt» und 2010 veröffentlicht er «Am Puls des Erfolgs», worin er seine Erfahrungen aus 30 Jahren Spitzensport beschreibt und Parallelen zwischen Sport und Wirtschaft aufzeigt und hinterfragt. Das Buch wird zum Bestseller und in Österreich mehr als 25’000 mal verkauft.

 

Nächster Artikel