Und plötzlich pfeift keiner mehr an der Anfield Road

Mit einem fabelhaften Tor stiehlt Cristiano Ronaldo nicht nur Mario Balotelli die Show, sondern auch die Zuneigung der Fans. Nach 70 Minuten verabschieden die Liverpool-Fans den Real-Spieler mit stehenden Ovationen. Und Real Madrid spaziert weiter durch die Champions-League-Gruppe des FC Basel.

Real Madrid's Cristiano Ronaldo celebrates after scoring a goal against Liverpool during their Champions League Group B soccer match at Anfield in Liverpool, northern England October 22, 2014. REUTERS/Phil Noble (BRITAIN - Tags: SOCCER SPORT) (Bild: Reuters/PHIL NOBLE)

Mit einem fabelhaften Tor stiehlt Cristiano Ronaldo nicht nur Mario Balotelli die Show, sondern auch die Zuneigung der Fans. Nach 70 Minuten verabschieden die Liverpool-Fans den Real-Spieler mit stehenden Ovationen. Und Real Madrid spaziert weiter durch die Champions-League-Gruppe des FC Basel.

Für die Rolle des Helden war am Mittwochabend an der Anfield Road eigentlich ein ganz anderer vorgesehen gewesen, doch gegen Cristiano Ronaldos Brillanz war am Ende nicht einmal die grösste Vereinstreue gefeit. Stehende Ovationen der Liverpooler Zuschauer begleiteten den Torschützen des exquisit erzielten 0:1 (23.) bei seiner Auswechslung zwanzig Minuten vor Abpfiff in die Kabine.

Zu Beginn des ungleichen Duells war der ehemalige Star vom verachteten Rivalen Manchester United noch bei jeder Ballberührung mit Spott und Pfiffen bedacht worden.

Grosszügiger Applaus verabschiedete später auch Ronaldos Mannschaftskollegen Toni Kroos und Marcelo. Das Publikum hatte sich da längst damit abgefunden, dass die höchste Heim-Niederlage der Reds in einem europäischen Klubwettbewerb mehr mit den superlativen Qualitäten der Königlichen zu tun hatte als mit den – zahlreichen – eigenen Schwächen.



Real Madrid's Cristiano Ronaldo, right, races away from Liverpool's Steven Gerrard, left, during the Champions League group B soccer match between Liverpool and Real Madrid at Anfield Stadium, Liverpool, England, Wednesday Oct. 22, 2014. (AP Photo/Jon Super)

Konnten nur hinter her laufen: Die Liverpooler hatten keine Mittel gegen den Ausnahmekönner aus Madrid. (Bild: Keystone/JON SUPER)

Vielleicht schwang im Lob für den Gegner auch Dank mit: Madrid hatte nach der 3:0-Führung zur Pause (Torschütze Karim Benzema, 30. und 41.) die Bemühungen weitestgehend eingestellt und die Gastgeber so vor einer grösseren Demütigung bewahrt. Am Samstag steht in der spanischen Hauptstadt der Clásico gegen Barcelona auf dem Programm.

Liverpool wirkte nach der vierjährigen Absenz aus der Champions League noch mindestens ebensoviele Jahre entfernt von der Klasse des Titelverteidigers. Vor allem die Defensive um den wackeligen Torhüter Simon Mignolet hat nicht die Befähigung für höhere Aufgaben; der Elf fehlt im dritten Jahr unter Brendan Rodgers ebenfalls ein klares spielerisches Profil.

In seiner ersten Saison hatte der Nordire extremen Passfussball praktizieren lassen, in der Vorsaison hätte man fast mit explosiven Kontern die Meisterschaft gewonnen. Die Suche nach einer Formel für eine alltagstaugliche Synthese gestaltet sich sehr schwierig.

Das «kalkulierte Risiko» Balotelli ist «ausser Form»

Das hat nicht zuletzt auch mit der Verpflichtung von Mario Balotelli zu tun. Ein «kalkuliertes Risiko» nannte Rodgers den Transfer des Italieners vom AC Milan für 20 Millionen Euro im Sommer. Rein finanziell mag das stimmen, doch Balotellis Lethargie ist wie ein giftiger Qualm über die gesamte Offensivabteilung gekommen.

Wo 2013/14 sein Vorgänger Luis Suárez (jetzt in Barcelona) und die Kollegen Daniel Sturridge (momentan verletzt) und Raheem Sterling mit schnellen Kombinationen Furcht und Feuer verbreiteten, schiesst nun der Mann mit dem Irokesenhaarschnitt aus meist unmöglichen Winkeln aufs Tor. «Langsam, egoistisch und ausser Form zu sein, ist eine desaströse Kombination für jeden Angreifer», fasste der «Independent» die Malaise zusammen.

Das Ende des Schutzes von Rodgers für den Neuzugang

Balotelli machte vor seiner Auswechslung zur Halbzeitpause den Fehler, mit Pepe das Trikot zu tauschen. Der englische Fussballfan sieht trotz seines Faibles für Fairplay solche vorschnellen Verbrüderungsrituale äusserst ungern. Rodgers kündigte prompt Sanktionen an («ich akzeptiere das nicht, wir werden das intern regeln»), aber viel schwerwiegender fiel seine fundamentale Kritik an Balotellis schleppendem Spiel aus.

«Wir brauchten mehr Bewegung in der Zentrale», erklärte Rodgers die Auswechslung, «in der zweiten Hälfte hat dann jeder einzelne Spieler gepresst und hart gearbeitet.» In den Wochen zuvor hatte der Coach den Stürmer noch ausdrücklich verteidigt und um Geduld für den Neuzugang gebeten.

Liverpool hat in der laufenden Spielzeit siebzehn Tore geschossen, Cristiano Ronaldo: zwanzig.

Jamie Carragher, der ehemalige Liverpool-Verteidiger, glaubt nun, dass Balotellis Tage an der Mersey bereits gezählt sind. «Es würde mich wundern, wenn er in der nächsten Saison nach da ist», sagte der 36-Jährige TV-Experte: «Er war ein Panikkauf. Es war spät (in der Transferperiode) und sie hatten noch jemanden gebraucht.»

Der Gegensatz zwischen dem in sich verloren über den Rasen mäandernden Italiener (ein Saisontreffer) und Ronaldo, der trotz all des eitlen Gestus stets hundertprozentig fokussiert auf die nächste Ballberührung wartet, könnte derzeit in Wirkung und Zahlen tatsächlich nicht grösser sein. Liverpool hat in der laufenden Spielzeit siebzehn Tore geschossen, Cristiano Ronaldo: zwanzig.

Champions League, Gruppe B
1. Real Madrid 10:2 Tore 9 Punkte
2. Ludogorets Razgrad* 3:4 3
3. Liverpool FC* 2:5 3
4. FC Basel* 2:6 3
* Zwischen Basel, Liverpool und Razgrad entscheiden die direkten Vergleiche. Da sich die Teams reihum geschlagen haben, steht Razgrad mit einem Torverhältnis von 2:2 und dem bisher einzigen Auswärtstor in den Direktbegegnungen am besten da. Danach kommt Liverpool mit einem Torverhältnis von 2:2. Und danach der FCB mit einem Verhältnis von 1:1.

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