«Unser Trainer hat Tote zum Leben erweckt»

Wie hat der Sevilla FC die Wende im Final von Basel geschafft? Und wie die «quinta», den fünften Triumph in der Europa League in elf Jahren? Ein Rückblick auf die Nacht im St.-Jakob-Park, auf einen bemerkenswerten Trainer und einen Theaterfreund unter den Helden aus Sevilla.

Sevilla head coach Unai Emery celebrates after winning the Europa League final soccer match between Liverpool and Sevilla in Basel, Switzerland, Wednesday, May 18, 2016. Sevilla won the match 3-1. (AP Photo/Martin Meissner)

(Bild: Keystone/Martin Meissner)

Wie hat der Sevilla FC die Wende im Final von Basel geschafft? Und wie die «quinta», den fünften Triumph in der Europa League in elf Jahren? Ein Rückblick auf die Nacht im St.-Jakob-Park, auf einen bemerkenswerten Trainer und einen Theaterfreund unter den Helden aus Sevilla.

Als letzter verabschiedete sich im St.-Jakob-Park der Pokal. Im Mannschaftsbus des Sevilla FC wurde der Motor angeworfen, an Bord schon gesungen, getrommelt und gebusselt, als die andalusische Delegation noch die letzten Souvenirfotos mit der Trophäe aufnahm. Für den dritten Sieg in Folge und den fünften insgesamt erhält Sevilla jetzt eine besondere Replik: quasi als Hochzeitsgeschenk für die «zweite Frau der Sevillistas», als die Trainer Unai Emery die Europa League bezeichnet.

«Es ist unglaublich, uns gehen die Worte aus», sagte «Monchi» Rodríguez, der Manager des Vereins über die Liaison, während er immer wieder von einem seiner Spieler angeknufft wurde. Beim zweiten Ausflug nach Basel in dieser Saison hatte der volksnahe Ex-Torwart und Funktionär («Weit mehr als Sportdirektor bin ich Fan von Sevilla») schon vor Beginn das Terrain markiert, als er wie ein Schattenboxer mit optimistischer Geste die Anhänger begrüsste.

Was ihm bei Sevillas Ehrenrunde nach dem Spiel durch den Kopf ging? Vielleicht dachte er daran, wie er im Jahr 2000 sein Amt bei einem klammen Zweitligisten antrat, der nicht mal seine Trainingsbälle bezahlen konnte.

Sevillas unglaublicher Aufstieg, Liverpools Chancenlosigkeit

Man weiss ja wirklich nicht, was unglaublicher ist am Aufstieg eines Clubs, der bis 2006 geschlagene 58 Jahre lang gar nichts gewonnen hatte: Die drei Titel nacheinander – Novum im zweiten kontinentalen Clubwettbewerb? Oder die fünf Europapokaltitel in elf Spielzeiten, übertroffen in der Geschichte nur durch jeweils sechs Siege von Real Madrid (1955–1966) und Liverpool (1973–1984).

epa05315950 Sevilla FC's captain Jose Antonio Reyes (C-L) poses with the UEFA Europe League's champions trophy next to the president of the team, Jose Castro (C-R), and head coach, Unai Emery (C, rear), upon the arrival of the team to airport of Seville, southern Spain, early 19 May 2016. Sevilla FC defeated Liverpool by 1-3 in the UEFA Europe League final played at the St. Jakob-Park stadium in Basel, Switzerland, on 18 May 2016. EPA/JULIO MUNOZ

Triumphale Heimkehr: Sevillas Co-Captain José Antonio Reyes mit dem Pokal, neben ihm Präsident José Castro und dahinter Trainer Unai Emery. (Bild: Keystone/JULIO MUNOZ)

In Basel teilten die Engländer nun das Schicksal von Middlesbrough, Espanyol Barcelona, Benfica Lissabon und Dnipro Dnipropetrowsk als Gehörnte der Sevillaner Liebeskunst. Wobei selten eine Mannschaft so chancenlos war wie die von Jürgen Klopp in der zweiten Halbzeit.

Unai Emerys Kunst der Einflussnahme 

Was natürlich direkt zu der Frage führte, wie sein Kollege Emery das bloss wieder hinbekommen hatte. Kaum ein Trainer, auch nicht die mit den grösseren Namen, kann ein Spiel inmitten seines Fortgangs so gekonnt verändern wie der 44-jährige Baske. Mal mit einer taktischen Umstellung, mal mit einer überraschenden Auswechslung. 

Zur zweiten Halbzeit in Basel kamen aus der Kabine allerdings dieselben Spieler in derselben Grundordnung, die zuvor teils überrollt gewirkt hatten und auch höher als 0:1 hätten zurückliegen können. Trotzdem war plötzlich alles anders.

Singen können sie auch: Der Rückflug des Sevilla Fútbol Club:

Bring ihn Heim: Die Mannschaft bei ihrer nächtlichen Rückkehr nach Sevilla:

Was während der Halbzeitpause in der Auswärtskabine des Joggeli passierte, ist der Stoff, aus dem Legenden sind. «Was wollt ihr?», habe Emery gefragt, berichtete der zweifache Torschütze Coke. «Er hat uns aufgefordert, unsere Mentalität zu ändern», ergänzte Verteidiger Daniel Carriço. Das Ergebnis war bereits 17 Sekunden später beim Ausgleich zu bestaunen. Danach schaute Sevilla nie mehr zurück.

Ausser natürlich in der Erinnerung an die Viertelstunde ab 21.30 Uhr, zu der auch der besorgte Monchi in die Kabine gekommen war. Sein Erlebnis dort liess ihn schwärmen:

«Wir haben einen Trainer, der in der Lage ist, Tote zum Leben zu erwecken. Unai hat in der Kabine ganz wundervolle Sachen gesagt. Dass die Spieler sich wie zu Hause fühlen sollen. Dass das hier unser Estadio Sánchez Pizjuán ist.»

Die Autosuggestionsstrategie

Emery lag damit zum einen gar nicht so falsch, denn halb so viele Spanier machten im Joggeli oft mehr Lärm als doppelt so viele Engländer. Aber vor allem war das natürlich die richtige Autosuggestionsstrategie für eine Mannschaft, die in der gesamten spanischen Ligasaison kein einziges Auswärtsspiel gewonnen hat. Sevilla musste nur daran glauben; den Rest erledigten Erfahrung und Klasse eines Teams, das die Momentumswechsel grosser Europapokalpartien zu handhaben weiss wie wenig andere.

Monchi, Sevilla FC

«Der Trainer hat in der Kabine ganz wundervolle Sachen gesagt» – Monchi Rodríguez, seit 2000 Sportchef des Sevilla FC und Architekt des Erfolgs. (Bild: Sevilla Futbol Club)

«Das Mentale führte zum Taktischen», resümierte Emery. In noch jungem Alter ist er nun der erste Trainer, der dreimal nacheinander im gleichen Europapokalwettbewerb triumphiert hat (Liverpools Bob Paisley gewann zwischen 1976 und 1978 verschiedene). Irgendwann wird er sicher weiterziehen zu einem der Clubs, die man als die ganz Grossen bezeichnet und die im Vergleich zu Sevilla das Vierfache an Jahresbudget gestemmt bekommen. So wie es auch die meisten Spieler tun.

Coke – der Held der «quinta»

Die Integration der Neuen kostet dann meistens die erste Saisonhälfte, in der sich Sevilla etwa in dieser Spielzeit nur gerade soeben durch ein 1:0 gegen Juventus Turin am letzten Gruppenspieltag der Champions League noch in die Europa League schmuggelte. Aber sie gelingt eben fast immer, dank Emery, dank des besonderen Ambientes in diesem Verein, des «Gefühls von Einheit, Familie und Solidarität» (Carriço).

Football Soccer - Liverpool v Sevilla - UEFA Europa League Final - St. Jakob-Park, Basel, Switzerland - 18/5/16 Coke celebrates after scoring the second goal for Sevilla Reuters / Michael Dalder Livepic EDITORIAL USE ONLY.

Sevillas Captain Coke: Arbeiter, Theaterfreund und Doppeltorschütze im Final von Basel. (Bild: Reuters/Michael Dalder)

Dank der paar Spieler, die mehr Zeit bei Sevilla verbringen. Spieler wie Kapitän Coke. Der Aussenverteidiger, im Final als Aussenstürmer aufgeboten, ist alles andere als ein klassischer Fussball-Star. In seiner Freizeit spielt er Theater, in seinem Job ist er so unglamourös, dass ihn die Fans auch schon mal für untauglich hielten. Nun ist er der Held der «quinta», des fünften Titels.

«Der Fussball war heute gerecht mit ihm», sagte Mitspieler Vicente Iborra. «Ein Typ, der arbeitet, ein Leader, ein Clubmann, einer, der da ist, wenn du ihn am meisten brauchst, wenn die Dinge schlecht laufen.»

Am Sonntag der nächste Final – gegen Barcelona

Auch Coke selbst sprach von der «menschlichen Qualität» als Schlüsselfaktor. «Andere Vereine schlagen uns beim Etat, aber keiner beim Herzen.» Die nächste Chance zur Beweisführung gibt es schon am Sonntag. Dann trifft Sevilla im spanischen Pokalfinale auf den hochfavorisierten Meister FC Barcelona, dem es im Sommer dann auch im spanischen Supercupfinale begegnen wird – so wie jetzt auch das europäische Supercupfinale wieder in den Kalender gerückt ist, gegen Real oder Atlético Madrid.

Fünf Mal in elf Jahren die Europa League respektive den Uefa-Cup gewonnen: die Erfolgsära des Sevilla FC geht einher mit der Dominanz des spanischen Fussballs in Europa. (Bild: uefa.com)

Durch Sevillas Endspielsieg gegen Liverpool – die einzige ausländische Mannschaft, die in dieser Saison überhaupt ein spanisches Team eliminieren konnte (im Halbfinale gegen Villarreal) – ist der Siegeszug der Primera División automatisch auf sechs Europapokaltitel fortgeschrieben. Noch nie hat eine Liga den Fussball so dominiert.

Die unzerstörbare Europa-League-Fregatte Sevilla

Von den grossen Schlachtschiffen Real und Barça über das Champions-League-U-Boot Atlético bis zur unzerstörbaren Europa-League-Fregatte Sevilla – die Teams sind so breit gestreut wie die Qualitäten des spanischen Fussballs. Er stellt die technisch besten Spieler, die taktisch versiertesten Trainer und er profitiert von der Überzeugung, die nur Siege geben können: dass der nächste Sieg ganz bestimmt kommen wird.

Selbst eine vermeintliche Ausnahmekonstellation wie fünf Champions-League-Starter wird da zur Gewohnheit. Wie schon in dieser Saison wird Sevilla durch den Triumph von Basel auch in der nächsten die spanische Armada ergänzen. Niemand sollte dabei jedoch ausschliessen, dass es seine Gruppe als Dritter abschliesst und wieder in einen Wettbewerb einzieht, über den Präsident José Castro sagt: «Zwei Mannschaften spielen gegeneinander und am Ende gewinnt immer Sevilla.»

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Die Berichterstattung der TagesWoche zum Europa-League-Final:

» Eine Basler Nacht für die Unsterblichkeit

» Jürgen Klopp nach der Niederlage: «Basel wird ein wichtiger Schritt sein zu einem wunderbaren Liverpool»

» Der Fest-Tag und das Spiel in unserem Live-Blog

» Was Jürgen Klopp vor der Partie noch sagte: «Zu Hause habe ich etwas viele Silbermedaillen im Schrank»

» Die Finalspiele in Basel – ein Rückblick in der Geschichte

» Liverpool in Erwartung: Klopp erweckt die Geister

 

Und zum guten Schluss: Eine Zusammenfassung des Spiels

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