An Tag 1 im WM-Trainingscamp der Nationalmannschaft im Weggis präsentiert sich ein aufgeräumter Valentin Stocker, der erleichtert ist, nachdem der Wechsel zu Berlin perfekt ist, und der sich nun auf sein erstes grosses Turnier freut. Tag 1 geht für den Basler Serienmeister jedoch schmerzhaft zu Ende.
Der Montag in Weggis endet für Valentin Stocker weniger schön als er angefangen hat. Bestens aufgelegt am Vormittag, als die Nationalmannschaft im ländlichen Idyll über dem Vierwaldstättersee ihre erste Trainingseinheit während der WM-Vorbereitung absolviert, besorgt dreinblickend, als er am späten Nachmittag mit einer dicken Bandage unterhalb des rechten Knies vom Platz schleicht.
Das Trainingsspiel liegt in den letzten Zügen. Etwas über 1000 Zuschauer in der Thermoplan Arena schauen Xherdan Shaqiri dabei zu, wie er mit der Brechstange ein Tor erzielen will und geniessen die Sonnenstrahlen, die durch die dichte Wolkendecke gebrochen sind. Gerade hat es, vom Pilatus her, noch bedrohlich angefangen zu tröpfeln.
Eine winzige klimatische Simulation quasi vor dem Trip zur WM in Brasilien, wo Hitze und Feuchtigkeit ein vieldiskutiertes Thema ist; noch vor den Stärken der Gruppengegner Ecuador, Frankreich und Honduras.
Schon der Verdacht auf eine Blessur hat Aufregerpotenzial
Ein letztes Laufduell. Stocker bricht ab und sinkt zu Boden. Teamarzt Roland Grossen, zuvor nur benötigt, um ein Tor aufzustellen, packt sogleich sein Täschen und eilt quer über den Platz. Das rechte Knie, an dem Stocker vor drei Jahren das vordere Kreuzband riss, wird an Ort und Stelle untersucht, der Nationaltrainer tritt dazu, das Trainings ist beendet.
Für den Test am Freitag (20.30 Uhr) gegen Jamaika, die Nummer 81 der Fifa-Rangliste hat der SFV sämtliche 17’000 Tickets in der Swissporarena abgesetzt. Für die zweite Partie in Luzern am Dienstag, 3. Juni, gegen Peru sind noch 2500 Karten erhältlich.
Nun wird, je näher ein Turnier rückt, sowieso jede Bewegung rund um ein Nationalteam unter einem Brennglas verfolgt. Im Fall von Stocker hat schon allein der Verdacht auf eine Blessur Aufregerpotenzial, wo doch die eigentliche, einstige Nummer 1 auf dem linken Flügel, Tranquillo Barnetta noch nicht wieder hundertprozentig fit ist.
Barnetta absolviert am Morgen abseits des Teams nur ein paar Übungen und bleibt – ebenso wie Valon Behrami und Mario Gavranovic – dem Nachmittagstraining fern und beschäftigt sich an den Fitnessgeräten im Mannschaftsquartier, dem feudalen Hotel Park.
Nach einem Notfall sieht es bei Stocker dem ersten Anschein nicht aus, ein schmerzhafter Schlag bloss, doch schon nur ein paar Tage mit reduziertem Training kann die Pläne eines Nationaltrainers durcheinanderbringen. Und Ottmar Hitzfeld setzte zuletzt, als Barnetta im Nationalteam nicht einsatzfähig war oder im Club auf wenig Spielminuten kam, auf Stocker, den Co-Autor der fünf Meisterschaften in Serie des FC Basel.
Stocker, Berlin und das gute Gefühl
Es könnte also alles zum Besten stehen. Sehr aufgeräumt erzählt Stocker zur Mittagsstunde von den turbulenten Tagen, die hinter ihm liegen. Vom Endspurt im Titelrennen, die Meisterfeier nach dem Aarau-Spiel, der Flug anderntags nach Berlin. Dort hat er bei Hertha BSC einen Vierjahresvertrag unterschrieben, der einen neuen Lebensabschnitt für den Fussballprofi und Menschen Valentin Stocker bedeutet.
Er erzählt, dass der FC Basel gerne mit ihm ein weiteres Mal verlängert hätte, dass der FCB von russischen oder ukraninischen Interessenten mehr Ablöse hätte herausholen können. Er sagt, das sei ja ein offenes Geheimnis, wobei: war nicht immer bloss vom VfB Stuttgart die Rede als Mitbewerber um Stockers Dienste?
Wie auch immer. «Ich hatte bei Hertha BSC von Anfang an ein gutes Gefühl», sagt Stocker, «sie haben mich über Jahre beobachtet, der Chefscout hat gut 40 Matches von mir gesehen.»
Er schildert, wie er sich in früheren Transferfenstern Fristen gesetzt hatte, und als innert dieser Zeit nicht der, wie er es einmal bezeichnete: «perfect match» zustande kam, ist er eben in Basel geblieben. Dort, wo er alles hatte, was es zum glücklich sein brauchte. Ausser einem See natürlich.
«Fühle ich mich verpflichtet, erreiche ich ein anderes Niveau»
Nun als Berlin. «Ich wollte das so, ich wollte, dass die Zukunft geklärt ist, bevor es zur WM geht. Für mich ist das sehr wichtig», sagt Stocker. Wichtig für einen, dem es ein Graus gewesen wäre bei der Vorstellung, bei Vorbereitung und während der WM auf dem Platz zu stehen und sich den Kopf zu zerbrechen: «Es ist ein Privileg, dass ich es so klären konnte.» Nun kann er sich ganz auf Brasilien einstellen, «und ich werde ein bisschen nervös sein.»
Dass er künftig in Berlin, in einer der aufregendsten Hauptstädte überhaupt leben wird, bezeichnet er als «schöne Nebensache». Zeit, die Stadt zu erforschen, wird er gemeinsam mit seiner Freundin auch genügend haben: Im Gegensatz zu den vielen Europacuppartien, die er in den vergangenen Jahren mit dem FCB bestritt, wird es in der Bundesliga zunächst einmal ein überschaubareres Programm geben: «Wir werden viel öfter gemeinsam daheim sein, weil ich ja nur ein Spiel in der Woche habe.»
Natürlich fühlt sich Stocker geehrt, wenn in Berlin nun im Zusammenhang mit ihm vom «Königstransfer» der Hertha die Rede ist, «auch wenn ich das selbst nicht so sehe», wie er beschwichtigt. «Sie haben», sagt Stocker, «viel für mich bezahlt, und ich versuche, etwas zurückzugeben.» Von vier Millionen Franken Ablöse, im Erfolgsfall 5,5 Millionen, ist die Rede.
«Wenn ich mich verpflichtet fühle», sagt Stocker, «erreiche ich ein anderes Leistungsniveau.» So also, wie er es in den sieben Profijahren beim FCB vorgelebt hat. Wie sensibel Stocker in dieser Hinsicht ist, verdeutlicht seine Überlegung, wie er sich einen Transfer nicht vorstellen wollte: Irgendwo hin zu wechseln, womöglich für ein weit höheres Salär, zu einem Verein, wo es einfach heisst: «Nimm den Ball und bring’ Leistung.»
«Ich fühle mich wohl, und ich glaube, das sieht man mir an»
Das alles erzählt Valentin Stocker in einem zur Begegnungsstätte mit den Medien umgewidmeten Raum des Kaffeemaschinenherstellers Thermoplan, der das Trainingscamp in Weggis mit ermöglicht hat. Kriens, wo Stocker herkomt, liegt nur eine halbe Schiffsstunde entfernt, und der 26-Jährige sagt: «Hier bin ich daheim. Hier fühle ich mich wohl. Und ich glaube, dass sieht man mir auch an.»
Das breite Grinsen weicht sechs Stunden später einer besorgten Miene. Die WM ist für Stocker nach 22 Länderspielen das erste grosse Turnier mit der Nationalmannschaft. Eine ernsthafte Verletzung käme jetzt höchst ungelegen.
Luxusherberge für die WM-Fahrer: Das Hotel Park Weggis, am Vierwaldstättersee gelegen. (Bild: Park Weggis)