Wimbledon könnte nach dem spielfreien Sonntag nicht spektakulärer weitergehen: Die Williams-Schwesters treffen aufeinander, zwei Frauen, die Tennis in einer eigenen Leistungsdimension betreiben. Martina Navratilova, eine andere grosse Tennisdame, sagt vor dem Duell: «Ich kann nur jedem raten: Geniess‘ es, solange es noch geht.»
Oracene Price ist sich noch nicht ganz sicher, wo sie diesen Montagnachmittag verbringen will. Den Tag, an dem ihre beiden Töchter Venus und Serena auf Wimbledons Centre Court gegeneinander antreten werden (14 Uhr MEZ), im Achtelfinal-Duell, in Episode 26 des Langzeit-Klassikers namens «Sister Act»: «Vielleicht gehe ich in die Stadt. Vielleicht fahre ich Riesenrad oder schiesse ein Bild von Big Ben», sagte die Mutter der beiden Williams-Schwestern mit einem gequälten Lächeln.
Nach dem traditionell freien mittleren Sonntag in Wimbledon geht es für Roger Federer am Montag mit dem dritten Match auf dem Centre Court weiter. Gegner ist der an Nummer 20 gesetzte Spanier Roberto Bautista Agut.
Als sie am Wochenende mit einem Grüppchen von Reportern auf der Spielerterrasse des All England Club zusammenstand und über das Match sprach, die schillernde, unübersehbare Mama, da brauchte es nicht viel und nicht lang, um zu wissen: Vergnügungssteuerpflichtig ist das alles nicht. Weder für Venus und Serena, noch für die grosse Familie, aber speziell für die Mutter, die den Laden zusammenhält, auch jetzt noch. «Ich bin froh, wenn dieser Tag vorbei ist», sagte Price.
Die Steh-auf-Frauen
Denkwürdig ist der Tag aber schon. Denn einen Tag wie diesen, einen Tag auf einer grossen Tennisbühne, mit Serena und Venus Williams auf verschiedenen Seiten des Netzes – das wird es so oft nicht mehr geben, vielleicht sogar nie mehr. «Ich kann nur jedem raten: Geniess‘ es, solange es noch geht», sagt die grosse Tennisdame Martina Navratilova.
Dass sie beide bei diesen Offenen Englischen Meisterschaften 2015 noch einmal das schwesterliche Rendezvous perfekt gemacht haben, sechs Jahre nach dem letzten grossen Vergleich im Wimbledon-Finale 2009, grenzt für viele Fans und Fachbeobachter an ein Wunder. Denn viel ist passiert seit jenem Auftritt: Serena schwebte nach einer Lungenembolie in Lebensgefahr, musste ein Jahr lang auf der Tennistour pausieren. Und Schwester Venus wurde vom sogenannten Sjögren-Syndrom heimgesucht, einer schweren Autoimmun-Krankheit, die stark an körperlicher Energie und Leistungskraft zehrt.
«Ich finde einfach bewundernswert, dass Venus immer noch da ist. Nach allem, was sie durchgemacht hat. Und noch durchmacht. Sie ist meine ganz grosse Heldin», sagt Serena, «wenn ich am Montag als Zuschauerin auf den Centre Court ginge, würde ich sie anfeuern.»
In einer eigenen Leistungsdimension
Bestimmt haben sie beide das Frauentennis in den letzten anderthalb Jahrzehnten, auch und gerade in Wimbledon. Erst stieg Venus, die hochgewachsene Athletin, zur schier unbezwingbaren Rasenmeisterin auf – eine, die im All England Club wie in einer eigenen Leistungsdimension, auf einem anderen Tennis-Planeten unterwegs war. Dann kam Serena, die kompakte Kämpferin, die Spätberufene, die sich in reifen Jahren immer mehr zur Jägerin aller nur möglichen Tennisrekorde entpuppte.
Beide gewannen sie jeweils fünf Wimbledon-Titel, bis heute haben sie sogar 27 Grand-Slam-Trophäen gesammelt, Serena 20 und Venus sieben. Und noch dazu holten sie 13 gemeinsame Doppeltitel. «Die Geschichte der beiden Schwestern, ihre Klasse und Stärke, das ist unübertrefflich», sagt der bekannteste Tennistrainer der Welt, Nick Bollettieri. Leicht favorisiert ist für Bollettieri die Weltranglisten-Erste Serena, die auch 14:11 der familiären Rivalität führt.
Die immer währende Frage der Stallorder
Natürlich gehören zu diesen Williams-Spielen immer auch die Zweifel, die Spekulationen und Verdächtigungen. Gibt es eine Stallorder, eine hausinterne Regie? Zieht etwa der Begründer der Tennis-Familiendynastie, Daddy Richard Williams, im fernen Florida die Fäden, umso mehr, da Serena den Allzeit-Rekord von 24 Grand Slam-Titeln einstellen, gar übertreffen kann?
Grosses Comeback: Venus Williams, hier bei ihrem Sieg gegen die Kasachin Yulia Putintseva. (Bild: Reuters/HENRY BROWNE)
«Venus war letzte Woche meine Schwester, sie wird es auch nächste Woche sein. Das ist, was zählt. Dass jede dieses Spiel gewinnen will, um jeden Preis, ist etwas ganz anderes», sagt Serena. Und Venus, die von der Schwester überholte Herausfordererin, sieht es so: «Du spielst dein Match, egal, wer auf der anderen Seite des Netzes steht. Du gehst raus, machst deinen Job. Und zwar so gut wie möglich.»
Und eins ist auch klar: Die Verliererin wird die Gewinnerin danach bedingungslos anfeuern, so wie auch nach den anderen 25 Sister Acts.