Für diese Karriere interessiert sich auch die Filmindustrie: Als 16-Jähriger fliegt Jamie Vardy aus der Jugendabteilung von Sheffield Wednesday und wird nach einer Schlägerei von der Polizei in Gewahrsam genommen. Über beschwerliche Jahre im Amateurfussball findet er den Weg in die Premier League, wo er zum Nationalspieler wird und einen Rekord aus der Saison 1931/32 angreift.
Mit weit ausgebreiteten Armen möchte Jamie Vardy einen Moment in seinem Fussballerleben festhalten, der sich nicht greifen lässt. Also zeigt er immer wieder mit seinen Fingern auf sich selbst. Es sieht so aus, als ob er sich vergewissert, dass wirklich er es ist, der einen neuen Rekord in der Premier League aufgestellt hat.
32’115 Menschen applaudieren ihm – fast auf den Tag genau vor vier Jahren waren es noch 768 Zuschauer, die das Amateurspiel seines damaligen Vereins Fleetwood Town besucht hatten. Der Jubellauf seines Lebens endet schliesslich bei Mitspieler Christian Fuchs, der ihn wie eine Trophäe in die Luft hält. Der Stürmer von Leicester City ist jetzt kein nationales Phänomen mehr, sondern eines, über das sich Drehbuchautoren aus Hollywood Gedanken machen. Sie überlegen, Vardys Karriere zu verfilmen.
Mit seinem Tor am vergangenen Samstagabend hat Jamie Vardy, 28, in den vergangenen elf Premier-League-Runden immer mindestens einmal getroffen. Seine Torreise begann Ende August an der Südküste in Bournemouth und kulminierte im vorläufigen Höhepunkt gegen Manchester United. Der englische Rekordmeister ist der Verein, mit dem der Niederländer Ruud van Nistelrooy zuvor die zwölf Jahre währende Bestmarke aufgestellt hatte.
Hauptbeschäftigung in der Karbonfaserfabrik
Zu van Nistelrooys Zeit schickte Sheffield Wednesday den damals 16-jährigen Vardy aus der Nachwuchsabteilung weg. Stattdessen nahm ihn die Polizei nach einer Schlägerei in Empfang.
Jamie Vardy ist ein Beweis dafür, dass es sich noch lohnt, in den Nischen des Amateurfussballs zu suchen.
Vardys Entwicklung als Fussballer setzte sich in der siebten Spielklasse bei Stocksbridge Park Steelers fort. Nebenbei schuftete er in einer Karbonfaserfabrik für seinen Lebensunterhalt. So sieht der Stoff aus, der England nun ins Schwärmen bringt. Weil er ein Kontrastprogramm darstellt zur Geldmaschinerie Premier League.
Er lässt das Mutterland des Fussballs mit einem besseren Gewissen einschlafen.
Das insgesamt 14. Saisontor spiegelt Vardys Stärken: schnell, schnörkellos, erfolgreich. Im eigenen Strafraum war er losgezogen, um zwölf Sekunden später am anderen Ende des Spielfelds aufzutauchen. Ballannahme mit dem Aussenrist, Torschuss mit dem rechten Innenspann.
Eine lange Liste von Amateuren, die im Profifussball Fuss fassten
Erst im Alter von 25 wechselte Vardy 2012 aus dem Amateurbereich zu Leicester City in die zweite Liga. Deswegen schreibt der frühere United-Kapitän Rio Ferdinand jetzt: «Was für eine Geschichte. Immer dran glauben, Kinder, es ist niemals zu spät.» Mehrere Spitzenteams sollen mittlerweile an Vardys Verpflichtung interessiert sein.
Inzwischen hat es Jamie Vardy (Nummer 9) bis in die Nationalmannschaft gebracht. (Bild: Keystone/VALDA KALNINA)
Dabei ist der Mann aus Sheffield nur eine Perle in einer ganzen Kette von Spielern, die sich ihre Fähigkeiten weit unter dem Radar der Profivereine angeeignet haben. Sie kommen sozusagen aus ihrer eigenen Liga. Ihr fussballerischer Aufstieg konterkariert die Politik vieler Premier-League-Klubs, die Millionenbeträge in den Aufbau ihrer Jugendakademien stecken, in der Hoffnung, den perfekten Spieler züchten zu können.
Der «Independent» hat eine Aufstellung der Profis veröffentlicht, die nicht in einem Jugendinternat auf der Insel ausgebildet wurden und ihre ersten Gehversuche im Herrenfussball unterhalb der vier Profiligen absolvierten. Darin sind Spieler wie Tottenhams Saisonemporkömmling Dele Alli noch gar nicht enthalten.
Das Auto als Umkleidekabine
Alli wechselte zu Beginn des Jahres vom damaligen Drittligisten Milton Keynes Dons zu den Spurs. Die hypothetische Auswahl der ehemaligen Amateurspieler führt Englands Nationaltorhüter Joe Hart an. Im Sturm lauert Vardy, die Verteidigung hält Manchester Uniteds Chris Smalling zusammen. Auch Flügelspieler Yannick Bolasie von Crystal Palace gehört zu den besten Könnern auf seiner Position. Dieses fiktive Team wäre wahrlich kein Notsammelsurium. Ihre Leistungsstärke dürfte ausreichen, um nichts mit den Abstiegsrängen der Premier League zu tun zu haben.
Jamie Vardys Jubel, nachdem er im elften Spiel in Folge ein Tor erzielte. (Bild: Keystone/RUI VIEIRA)
Was diese Akteure vereint, ist ihr Hunger, im Profifussball Fussstapfen zu hinterlassen. Smallings letztes Spiel für seinen früheren Verein Maidstone United fand vor einer Kulisse von 345 Zuschauern statt. «Manchmal bist du besser dran, wenn du dich im Auto umziehst», sagt Smalling. Kabinentrakte, wie sie die Topvereine für ihre Nachwuchsteams vorzuweisen haben, finden sich auf Amateurniveau nicht.
Solche Erfahrungen erden die Spieler und sorgen für Demut. Vor einem halben Jahr hat Vardy seinen Einstand im englischen Nationalteam gefeiert, seine Spielweise ist dieselbe geblieben. Im Duell mit Manchester United verhindert er an der Eckfahne durch einen Hechtsprung den Befreiungsschlag des Gegners. Und nach der Partie antwortet er auf die Frage nach seiner neuen Bestmarke: «Der Rekord war nie in meinem Kopf. Sonst hätte das Auswirkungen auf meine Leistung gehabt und mein Team hätte mit einem Mann weniger auskommen müssen.»
Vardy greift die Bestmarke aus der Saison 1931/32 an
Wie dem Rest der Liga ist auch Smalling der rapide Aufstieg von Vardy lange verborgen geblieben. Aber der Innenverteidiger kennt zumindest die Mentalität seines Artverwandten, weil sich ihr Lebensweg ähnelt. «Jamie ist ein gelassener Charakter. Jeder redet über ihn, aber er gehört zu einer Sorte Mensch, die sich nicht verändert.»
Vardys Teamkollegen bei Leicester haben ihm ein signiertes Trikot überreicht mit der Rückennummer 11, das an sein Rekordwerk erinnern soll. Am Samstag könnte er bei Swansea sogar die Allzeitbestmarke des Iren Jimmy Dunne aus der Saison 1931/1932 egalisieren.
Die Planspiele gehen jedoch noch einen Schritt weiter. Seit einigen Monaten arbeitet er daran, eine Trainingsbasis aufzubauen, um jungen Fussballern vergleichbaren Lebenswegs eine Chance zu bieten, über eine andere Strasse ins Profigeschäft zu fahren. «Mehr und mehr Spieler fallen früh aus dem System raus», sagt Vardy. «Ich weiss, wie sich so etwas anfühlt und wie schwer es in dieser Situation ist zurückzukommen.»
Ab 2017 soll jährlich ein einwöchiges Trainingslager stattfinden, an dem 60 Amateure teilnehmen können, um vor Talentspähern der Profiklubs zu spielen. «Wir glauben daran, dass es da draussen mehr Jamie Vardys gibt», sagt sein Berater. Im abgelaufenen Transfersommer haben die Vereine der Premier League zusammen umgerechnet 1,3 Milliarden Schweizer Franken ausgegeben, um neue Spieler zu verpflichten.
Jamie Vardy ist ein Beweis dafür, dass es sich noch lohnt, in den Nischen des Amateurfussballs zu suchen.
Auf dem Weg nach ganz oben: Jamie Vardy nach seinem Rekordtor. (Bild: Keystone/RUI VIEIRA)