Cuche abgetreten, Feuz malade, Janka zu langsam – die Schweizer Skifahrer sind von der Idealspur abgekommen. Die Rennen in Übersee markieren einen historischen Tiefpunkt. Dabei ist vom Nachwuchs durchaus einiges zu erwarten.
Gesundheit. Wer Carlo Janka vor der Saison nach seinen Zielen und Wünschen für diesen WM-Winter fragte, bekam meist nur diese eine Antwort zu hören. Nicht etwa eine WM-Medaille oder der erste Weltcupsieg seit März 2011 stehen auf der Prioritätenliste ganz oben, nein: «Mein Wunsch ist es einfach nur, gesund zu bleiben», erklärte der Mann, dem einst keine Piste zu schwierig, kein Gegner zu mächtig und kein Ziel zu ehrgeizig sein konnte.
Doch mit jenem selbstbewussten, siegessicheren und souveränen Rennläufer, der in der Saison 2009/10 den Gesamtweltcup gewann und 2010 Olympiasieger im Riesentorlauf wurde, hat der Carlo Janka von heute nur mehr wenig gemein. Die gesundheitlichen Probleme während der beiden letzten Winter haben Spuren hinterlassen und den 26-Jährigen nachdenklich gemacht.
«Es ist schon lange her, dass ich eine Saison ohne Beschwerden absolvieren konnte», sagt Janka. Vor zwei Jahren hatten ihn Herzrhythmusstörungen aus der Bahn geworfen, im letzten Winter zwickte ihn der Rücken. «Ich habe gemerkt: Wenn der Körper nicht mitspielt, dann ist es nicht möglich, an der Spitze mitzufahren.»
Die niederschmetternde Zwischenbilanz
Dabei hätte Swiss Ski gerade jetzt einen gesunden, einen topfitten und leistungsfähigen Carlo Janka dringender nötig denn je. Denn die Bilanz nach den ersten 14 von 74 Saisonrennen fällt ernüchternd aus: Nur ein Podestplatz durch Marianna Kaufmann-Abderhalden in der Abfahrt von Lake Louise (Platz 3). Wer Schweizer Skifahrer in den Ergebnislisten finden will, der muss auf die zweite Seite blättern.
Während die Frauen zumindest in den Speed-Disziplinen auf Tuchfühlung zu den Spitzenplätzen sind – zuletzt landeten beim Super G in Lake Louise Lara Gut (6.), Dominique Gisin (7.) und Fabienne Suter (10.) in den Top Ten – fährt den Schweizer Männern die Konkurrenz um die Ohren.
Swiss Ski fehlt die Galionsfigur, an der sich Talente orientieren.
Im Super G in Beaver Creek kam Didier Défago als bester Schweizer nicht über den 16. Platz hinaus, und in der Abfahrt von Lake Louise reichte es für Silvan Zurbriggen zu Rang 24. Ein historischer Tiefstwert. Und auch im letzten Rennen in Übersee, dem Riesenslalom in Beaver Creek, spielten die Schweizer keine Rolle. Carlo Janka war der einzige im Finaldurchgang, 24. Schlussrang, abgeschlagen mit 4,67 Sekunden Rückstand.
Nur zum Vergleich: Vor einem Jahr stand Swiss Ski zu diesem Zeitpunkt bei den Männern bereits mit sechs Podestplätzen da (2 Siege, 3 zweite Plätze, 1 dritter Rang). Der Blick auf die Erfolgsgaranten und Protagonisten von damals offenbart die Krise von heute: Der eine Winnertyp, Didier Cuche, hat die Karriere beendet, der andere Ski-Heros, Beat Feuz, hat zwar mit 25 Jahren das Rentenalter für Rennläufer noch lange nicht erreicht, muss aber trotzdem schon um die Zukunft seiner Karriere bangen. Wegen seiner hartnäckigen und komplizierten Knieentzündung musste der Emmentaler, der im Vorjahr nur knapp den Weltcup-Gesamtsieg verpasst hatte, die Saison vorzeitig beenden.
Bei den Junioren ist niemand erfolgreicher
Die Erfolge des dynamischen Duos haben im Vorjahr darüber hinweg-getäuscht, dass die nächste erfolgversprechende Schweizer Ski-Generation zwar in den Startlöchern steht, aber noch Zeit benötigt, um Fahrt aufzunehmen und in die Bresche zu springen. Zu gross ist der Sprung von der Junioren- und Europacup-Serie in den Weltcup – vor allem in den Speed-Disziplinen, wo in erster Linie Routine gefragt ist. Zu sehr fehlen aktuell die Leistungsträger und Galionsfiguren, hinter denen sich die Talente Schritt für Schritt entwickeln könnten, wie es zum Beispiel in Österreich der Fall ist.
Dabei deuten die jüngsten Ergebnisse bei den Junioren-Titelkämpfen an, dass sich der Schweizer Nachwuchs auf der Überholspur befindet. 2011 gewannen Schweizer an der Junioren-WM elf Medaillen und waren die absolute Nummer eins, und auch in diesem Jahr holte keine andere Nation mehr als die acht Medaillen von Swiss Ski. Das wird auch im Nachbarland Österreich mit Respekt und Nervosität wahrgenommen. «In der Schweiz ist im Nachwuchs sehr viel vorwärtsgegangen», sagt der österreichische Männer-Cheftrainer Mathias Berthold, «da können wir einiges erwarten.»
Doch das ist Schnee von morgen. Die nahe Zukunft sieht weniger rosig aus. Vorerst bleiben Abfahrts-Olympiasieger Didier Défago, der mit 35 Jahren nicht mehr wirklich zu den Zukunftshoffnungen zu zählen ist; Silvan Zurbriggen, der nicht an die starken Leistungen von 2009/10 und 2010/11 anschliessen konnte; Sandro Viletta, der seit seinem überraschenden Super-G-Sieg vor einem Jahr in Beaver Creek nie mehr in den Top Ten zu finden war und jede Menge rekonvaleszenter oder verletzter Läufer: Marc Gisin, Patrick Küng, Vitus Lüönd, Daniel Albrecht, Justin Murisier.
Ein kleiner Achtungserfolg
Und es bleibt eben jener Carlo Janka, der mehr mit sich selbst beschäftigt zu sein scheint als mit den Gegnern. «Platzierungen sind für mich eher sekundär», gesteht der 26-Jährige. Zumindest die Formkurve des einstigen Weltcup-Gesamtsiegers gibt leichten Anlass zur Hoffnung. Nachdem er in den ersten drei Saisonrennen noch in der Kategorie «ferner fuhren» auf den Plätzen 34, 51 und 40 gelandet war, sammelte Janka mittlerweile schon wieder einige Weltcup-Pünktchen.
Highlight und positiver Ausreisser nach oben: der elfte Platz in der Abfahrt von Beaver Creek. Ein kleiner Achtungserfolg, mehr aber auch nicht für das Schweizer Skiteam, das angetreten ist, um zumindest mittelfristig die Vorherrschaft der österreichischen Skiläufer zu brechen, die seit dem Winter 1989/90 unangefochten die Nummer eins im alpinen Nationencup sind.
Doch von Angriff kann derzeit keine Rede sein. In der Nationenwertung liegt das Schweizer Skiteam nach dem Fehlstart der Männer an sechster Position, 1430 Punkte hinter Leader Österreich. Die drei Führenden im Weltcup, der Norweger Aksel Lund Svindal (400), der US-Amerikaner Ted Ligety (320) und der österreichische Titelverteidiger Marcel Hirscher (220) haben allein mehr Punkte gesammelt als die ganze Schweizer Herrenmannschaft (217).
Nicht mal die Österreicher kümmert das Schweizer Leid.
Normalerweise wäre ein so desolates Abschneiden ein gefundenes Fressen für die Österreicher. Doch statt es Häme für die Skikrise beim Erzrivalen setzt, beschäftigen sich die Nachbarn mit ihrer Vorfreude auf die bevorstehende Heim-WM in Schladming, lassen sie ihren neuen Liebling Marcel Hirscher, Österreichs Sportler des Jahres, hochleben oder auch US-Star Lindsey Vonn, die mit Wohnort im Tiroler Ötztal und Sponsor aus Salzburg als halbe Österreicherin betrachtet wird. Die Schweizer Hinterherfahrer sind den Österreichern wurscht. Ignoranz als Höchststrafe.
In der Schweiz zieht derweil die Krise ihre Kreise. Ex-Rennläufer erteilen vor allem Carlo Janka Ratschläge. Daniel Mahrer, Gewinner von acht Weltcup-Rennen, glaubt zu wissen, wo Carlo Janka der Schuh drückt und rät zum sofortigen Schuhwechsel. Bernhard Russi ist überzeugt, dass nur ein Skiwechsel Janka zurück in die Erfolgsspur bringen kann. Und der ehemalige Abfahrtsspezialist Gustav Oehrli meint gar, dass der 26-Jährige überhaupt seine Technik grundlegend umstellen muss. Der «Blick» fragt bang: «Wie konnte es so weit kommen?» Männer-Cheftrainer Osi Inglin sagte nach der Rückkehr aus Nordamerika relativ ratlos: «Wir wissen derzeit nicht, wo wir ansetzen sollen.»
Janka bleibt der Iceman
Und was macht Carlo Janka? Er bleibt ruhig, so wie er auch in den Stunden seiner Triumphe stoisch und nüchtern geblieben war und weshalb man ihn «Iceman» nennt. Kein Anflug von Panik, keine Spur von blindem Aktionismus, keine Zeichen von Verzweiflung. Die Kritik an seiner Person lässt ihn genauso kalt wie sein Absturz von Wolke sieben auf den harten Boden der Tatsachen.
«Mir war immer klar, dass der Sport sehr schnelllebig ist», sagt Carlo Janka, «und ich wusste auch, dass es nicht immer so weitergehen kann, wie damals in meinen zwei super Jahren.» Doch Abgeklärtheit hin, gesunder Realismus her, es gibt Momente, da läuft auch der coole Graubündner heiss. Auch wenn man es ihm nicht ansieht. «Manchmal», sinniert Carlo Janka, «manchmal wäre ich im Ziel am liebsten vom Erdboden verschluckt worden.»
Der alpine Skiweltcup 2012/13 im Überblick
Die Weltcup-Rennen im Dezember 2012 |
||||
---|---|---|---|---|
Datum |
Ort |
Frauen |
Ort |
Männer |
7.12. | St. Moritz | Superkombination | ||
8.12. | St. Moritz | Super-G | Val-d’Isère | Slalom |
9.12. | St. Moritz | Riesenslalom | Val-d’Isère | Riesenslalom |
14.12. | Val-d’Isère | Super-G | Gröden | Super-G |
15.12. | Val-d’Isère | Abfahrt | Gröden | Abfahrt |
16.12. | Courchevel | Riesenslalom | Alta Badia | Riesenslalom |
18.12. | Madonna di Campiglio | Slalom | ||
19.12. | Åre | Riesenslalom | ||
20.12. | Åre | Slalom | ||
28.12. | Semmering | Riesenslalom | ||
29.12. | Semmering | Slalom | Bormio | Abfahrt |
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 07.12.12