Der Tennis-Verband und die Ausrüster profitierten in den letzten zwanzig Jahren von Erfolgen – insbesondere von denjenigen Roger Federers. Die Anzahl der Junioren wächst stetig, doch bei den Erwachsenen deutet die Entwicklung nach unten. Und was kommt nach Federer?
Das Gesicht der Swiss Indoors ist Roger Federer nicht mehr. Bei der Eigenpräsentation der Indoors wurde der Baselbieter verdrängt von Rafael Nadal und Udo Jürgens’ musikalischer Eröffnungsshow. Es ist das nach aussen sichtbare Zeichen des zerrütteten Verhältnisses zwischen Federer und seinem Heimturnier, oder, um präziser zu sein: zwischen Federer und Turnierdirektor Roger Brennwald.
Hinter Nadal, der Weltnummer 1, hinter Vorjahressieger Juan Martin del Potro und Tomas Berdych kommt Federer als Nummer 4 der Setzliste nach Basel, bedrängt im ATP-Ranking von seinem Landsmann Stanislas Wawrinka. Im Spätherbst von Federers Karriere steht eine Neuorientierung des Schweizer Tennis an. Die Swiss-Indoors-Macher haben – ob nun kalkuliert oder ungewollt – damit bereits angefangen.
Seit einem Jahrzehnt steht der Tennissport in der Schweiz ganz im Zeichen von Roger Federer, nicht zuletzt die Entwicklung im Juniorenbereich. Doch was bleibt zehn Jahre nach dem ersten Grand-Slam-Sieg vom Federer-Effekt?
Als der Ausnahmekönner 2003 erstmals in Wimbledon triumphiert hatte, griffen mehr junge Menschen zum Tennisschläger. Seitdem entwickelt sich die Zahl der registrierten Kinder und Jugendlichen zwar nicht rasant nach oben, sie hat sich aber konstant bei einer durchschnittlichen Zunahme von ungefähr 2,5 Prozent eingependelt.
Von Rosset über Hingis bis Federer
Das sah in den Dekaden zuvor ganz anders aus: Ende der 1980er-Jahre erlebte der Dachverband Swiss Tennis nach einer Phase starker Zuwachsraten einen Einbruch bei den Junioren. «Damals nahm die Konkurrenz mit anderen Freizeitangeboten massiv zu», sagt Andreas Fischer, Leiter Wettkampf bei Swiss Tennis, «die Anforderungen an junge Erwachsene im Beruf haben zugenommen, der Zeitaufwand dafür ist enorm. Auch gibt es mehr Möglichkeiten, die Menschen sind mehr unterwegs und heute eher bereit, für eine Ausbildung wegzuziehen. Das hat Auswirkungen auf die Vereinslandschaft.»
Trotzdem schlugen die Juniorenzahlen Anfang der 1990er-Jahre kurzzeitig nach oben aus. Der Grund war Marc Rossets olympisches Gold 1992 in Barcelona. «Solche Erfolge sind immer positiv», sagt Fischer; Niederschlag fand das in den beiden Folgejahren in einem fünfprozentigen Anstieg bei den Junioren.
Es folgten Jahre eines leichten Rückgangs. Die fünf Grand-Slam-Siege von Martina Hingis zwischen 1997 und 1999, mit dem erfolgreichsten Jahr 1997, als sich die Ostschweizerin 17-jährig drei Titel und einen Finaleinzug bei den vier wichtigsten Turnieren erspielte, konnten diesen Schwund bei den Buben nicht stoppen.
Bei den Juniorinnen allerdings gab es den Hingis-Effekt schon. «Mitte der 1990er-Jahre bis zur Jahrtausendwende verbuchten wir bei den Mädchen eine enorme Entwicklung nach oben. Das kann man auf Hingis’ Erfolge zurückführen», sagt Fischer. Doch heute sieht die Situation ganz anders aus: Momentan sind die Lizenzzahlen bei den Mädchen wieder rückläufig. «Das hat», so Fischer, «nichts mit den fehlenden Erfolgen der Schweizerinnen zu tun; es ist ein generelles gesellschaftliches Phänomen, dass Mädchen und Frauen sich weniger am Wettkampf orientieren – und weniger Wettkämpfe bestreiten. Das schlägt sich auch in unseren Statistiken nieder.»
Schwund bei den Erwachsenen
Ein Blick nach Deutschland, wo sich die Zahlen seit den 1960er-Jahren ähnlich entwickelt haben wie in der Schweiz, bestätigt: Die Erfolge der Topspieler haben einen deutlichen Einfluss auf die Entwicklung der Anzahl Junioren. Als der 17-jährige Boris Becker 1985 in Wimbledon seinen ersten von insgesamt sechs Grand-Slam-Titeln gewann, wurde ein Niedergang gestoppt, erfreute sich der Deutsche Tennis Bund in den Folgejahren eines Zulaufs. Dieses Wachstum hielt bis Mitte der 1990er-Jahre an, parallel zu den Erfolgen von Becker, Steffi Graf und Michael Stich.
Doch während die Weltstars des Tennis junge Menschen zu begeistern vermögen und Zugkraft entwickeln, nehmen die Zahlen bei den Aktiven seit Jahren ab. Dies gilt seit 1995 sowohl für die Schweiz als auch für Deutschland – daran änderten weder Steffi Grafs letzte sieben, noch Roger Federers erste siebzehn Grand-Slam-Titel in diesem Zeitraum etwas.
Von einem Tennis-Boom kann keine Rede sein, auch nicht in Federers Heimatregion. Es gibt zwar Clubs mit steigenden Mitgliederzahlen, «aber dass eine Kausalität besteht, kann ich nicht behaupten», sagt beispielsweise Christian Schneider, Präsident des TC Schaffhauserrheinweg.
Auch andere Clubs sehen unisono keinen direkten Zusammenhang zwischen den Erfolgen Federers und ihrer jeweiligen Mitgliederstärke. Federer spiele höchstens beim Verkauf von Sportartikeln im clubeigenen Shop eine Rolle, wie Quentin Grimm vom Sportcenter Tennis an der Birs sagt. «Auch von Hingis’ Erfolgen», so Grimm, «haben wir kaum etwas gespürt. Das lässt sich beispielsweise dadurch belegen, dass es im Frauentennis immer weniger Turniere im Breitensport gibt, da es an Nachwuchs mangelt.»
Die Erfolge Federers und anderer Schweizer Tennisspieler haben zwar erstaunlicherweise kaum Einfluss auf die Mitgliederzahlen der Tennisclubs in der Region Basel – sie sind aber wohl der Motor für den Verband – und für die Ausrüster. Wilson, der amerikanische Sportartikelhersteller und Racketausrüster Federers, habe dank Federers Erfolge «die Marktposition Nummer eins von Head» übernommen, wie Lucio Zallot, Generaldirektor von Head Schweiz, sagt. Er tröstet sich inzwischen mit Novak Djokovic, der nach seinem Markenwechsel die Absatzzahlen von Head steigert.
Auch Yonex Schweiz, die Ausrüsterfirma von Stanislas Wawrinka, spürt die Erfolge ihres Topspielers: «Wir verkaufen deutlich mehr Tennisrackets. Nach den Australian Open und den US Open war dieses Jahr eine verstärkte Nachfrage festzustellen», sagt Co-CEO Thomas Münzner, «es gab in den Wochen danach signifikant mehr Leute, die sein Racket testen wollten.»
Federer-Ära als Massstab
Reto Estermann, Verkaufschef bei Wilson, bewertet die Auswirkungen bei den drei grossen Schweizer Aushängeschildern so: Marc Rossets Olympiasieg 1992 habe keinen gros-sen Einfluss auf die Verkaufszahlen gehabt; Martina Hingis’ Grand-Slam-Erfolge brachten einen kleinen Aufschwung; Roger Federer rief mit einem Wilson-Schläger ein grosses Echo hervor. Abhängig sei Wilson von einem Aushängeschild zwar nicht, aber «froh und dankbar» ist der Ausrüster indes schon über die Verbindung mit Federer.
Deshalb sagt Estermann mit Blick auf die Zeit nach der Ära Federer: «Auch wenn die Zahl der lizenzierten Spieler seit Jahren ziemlich stabil ist, gibt es Grund zur Sorge, was die Popularität dieses Sports anbelangt, wenn die Präsenz im Fernsehen und anderen Medien abnimmt.»
Roger Federer hat mit seiner Ausnahmestellung im Welttennis die Schweiz jahrelang verwöhnt – und Erfolge zur Selbstverständlichkeit gemacht. Mit 32 Jahren neigt sich seine Karriere dem Ende zu. Diejenige Stanislas Wawrinkas erlebt ihre Blütezeit, aber auch der Romand ist bereits 28 Jahre alt. Und von den zehn bestplatzierten Schweizern sind bereits vier über dreissig Jahre alt.
Bei den Frauen könnte es dereinst die Ostschweizerin Belinda Bencic an die Spitze schaffen, auch wenn ihre Siege bei den Juniorenturnieren der French Open und in Wimbledon keine Garantie für Erfolge bei den Grossen sind. Kann der 21-jährige Henri Laaksonen (ATP 230) sein Versprechen für die Zukunft nicht einlösen, droht dem Schweizer Männertennis in einigen Jahren eine grosse Leere.
Andreas Fischer von Swiss Tennis ist sich dessen bewusst: «Wir werden dereinst an den Erfolgen von Roger Federer gemessen werden. Seine Karriere könnte dann auch zum Hindernis werden.»
Artikelgeschichte
Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 18.10.13