Kleinmütig wie selten kommen die Engländer zur Euro 2012: Weniger Pop und Glamour heisst die Devise, dafür hat man sich der Arbeit und ein wenig Demut verschrieben. Roy Hodgsons fussballerischer Problem könnte lauten: Was passiert, wenn die anderen das erste Tor schiessen?
Knapp 24 Stunden vor der Ankunft des Kaders in Krakau stand schon der Mannschaftsbus vor dem Stary Hotel in der Innenstadt, in all seiner frisch gewienerten, glänzenden Pracht. Das Bild war vom Verband inszenziert: das englische Team soll bei dieser Europameisterschaft, wenn schon nicht zum Anfassen, für alle zumindest nah- und sichtbar sein. Mitten drin, nicht hochgradig abgeschirmt und übertrieben distanziert von Land und Leuten wie bei den Turnieren zuvor.
«Wir haben unsere Lehren aus der letzten WM gezogen», sagt Adrian Bevington. Der Verbandsmanager war vor zwei Jahren dabei, als sich Fabio Capellos Truppe auf einem Campus in der nordwestlichen Provinz Südafrikas verschanzte und mangels Ablenkung nur mit sich selbst und den eigenen Neurosen beschäftigte – bis es gegen Deutschland im Viertelfinale zum Total-Crash kam. «Man kann die Jungs nicht kasernieren», sagt Trainer Roy Hodgson, «es ist besser, wenn die Spieler in ihrer Freizeit Kontakt mit anderen haben, und auch einmal einen Kaffee trinken können.»
Hodgsons heikler Verzicht auf Rio Ferdinand
Von früheren Turnier-Erfahrungen mit der Schweiz (WM 1994) weiss der 64-Jährige auch, wie wichtig eine friedliche Kabine ist. Die Nichtnominierung von Verteidiger Rio Ferdinand (Manchester United) rechtfertigte er mit nicht näher definierten «Fussballgründen», dabei ist ein offenes Geheimnis, dass Hodgson damit in erster Linie auf die in Bälde vor Gericht verhandelten Rassismus-Vorwürfe gegen John Terry reagierte. Der Chelsea-Captain wird beschuldigt, Rios kleinen Bruder Anton Ferdinand (Queens Park Rangers) beleidigt zu haben.
Hodgson sah sich vor die Wahl gestellt und entschied sich – sachlich durchaus nachvollziehbar – für Terry. Richtig kontrovers wurde die Personalie erst im Zuge der Verletzungen von Gareth Barry, Frank Lampard und Gray Cahill, als Hodgson zwei andere Verteidiger (Phil Jagielka, Martin Kelly) nachnominierte. «Jeder weiss, dass es dabei nicht um Fussball ging, die Entscheidung ist moralisch fragwürdig», kritisierte der schwarze Profi Jason Roberts (Reading).
Ein bisschen Demut statt Glamour
Hodgson hält eisern an seiner Notlüge fest und hofft, dass sich die Diskussion übers Wochenende erschöpft. In der Bemühung um Normalität wurden ausserdem die WAGs (wives and girlfriends) der Spieler angewiesen, sich anders als in Baden-Baden 2006 diskret im Hintergrund zu halten. England, das in den Beckham-Jahren Fussball endgültig zum Pop-Produkt machte und sich mitunter wie eine tourende Superstar-Band gerierte, hat sich Demut verschrieben. «Zwischen 2002 und 2007 haben alle den Überblick verloren, das war symptomatisch für diese Zeit», sagt Assistenz-Trainer Gary Neville. «Wir sind hier, um Fussball zu spielen. Wir sind hier, um zu arbeiten.»
Letzteres sollte möglich sein, aber ob sich Hodgsons ganz auf Konter ausgerichtete 4-4-1-1-System auch fürs Fussball-Spielen eignet, ist eine andere Sache. Vor dem Auftaktmatch gegen Frankreich in Donezk am Montag hat der Coach seine durch die Rot-Sperre von Wayne Rooney und die Verletzungen geschwächte Elf mit fast schon verstörend kleingeredet. «Ich weiss nicht, ob wir Frankreich schlagen können», sagt Hodgson, «wenn man vergleicht, wie sie sich in den vergangenen zwei Jahren im Gegensatz zu uns entwickelt haben, gehen wir definitiv nicht als Favoriten in dieses Match.»
Schamlos werden sie den Bus vor dem Tor parken
Gareth Southgate, der Nachwuchsdirektor der Football Association FA, degradierte England ebenfalls zum fussballerischen Zwergstaat, der sich in der Ukraine eben mit den schlichten Mitteln des Underdogs wehren müsse. «Wir sind nicht in der Situation, dass wir viele Teams ausspielen können», sagte der ehemalige Nationalspieler. «Wir haben selten mehr Ballbesitz als der Gegner, also müssen wir logisch darüber nachdenken, wie wir uns ausrichten und Ergebnisse erzielen können.»
Was die Passanten in der Krakauer Fussgängerzone am Dienstagabend sahen, gerät mit anderen Worten also auch zum taktischen Sinnbild: England wird bei dieser EM den Mannschaftsbus schamlos vor dem eigenen Tor parken.
Falls der frühere GC- und Xamax-Trainer Hodgson es schafft, dass seine in den Vereinen fast ausnahmslos um Ruhm und Titeln spielenden Kicker dieses 1:0-Denken auch im Turnier verinnerlichen und nicht in den sonst üblichen, hektischen Aktionismus verfallen, wenn ihnen das Spielgerät mal über längere Zeit vorenthalten wird, kann diese ohne grosse Illusionen angereiste Truppe sich selbst überraschen. Sehr schwer wird es nur, wenn die anderen das erste Tor schiessen.