Vom Staat vorgegebene Erzählungen, Verschwörungstheorien und Artikel, hervorgebracht durch Einschüchterung und Gewalt. So stellt man sich im Westen die russischen Medien gerne vor. Und tatsächlich sucht man in Russland vergeblich nach einem «Spiegel», einem «Guardian» oder einer «Liberation», denn die Tradition einer unabhängigen Presse gibt es hier nicht.
«Wirklich nicht genug Freiheit»
Nun aber nehmen Medien, die ansonsten wenig über Sport berichten, die WM als Anlass, ungewohnt offen über die Verhältnisse zu schreiben. So hiess es in der angesehenen wirtschaftsliberalen Tageszeitung «Kommersant», die Weltmeisterschaft habe eine Atmosphäre der Freiheit und Entspannung geschaffen:
«Es scheint völlig normal, dass die Polizei gestrandeten Menschen hilft, anstatt sie zu inhaftieren. Auch das Tragen von extravaganter Kleidung scheint jetzt gerade genauso normal, wie, dass es nicht überall Zäune und Absperrungen gibt. Die Begeisterung der Russen für diese neu gewonnene Nachsicht ist das deutlichste Zeugnis, dass wir wirklich nicht genug Freiheit haben.»
In der regierungskritischen Novaja Gazeta schrieb die Kolumnistin Irina Pertrowskaja:
«Das Gute ist, dass dieses düstere und halb isolierte Land, nach vielen Jahren des eingetrichterten Hasses gegen Ausländer und des komischen Stolzes, auf was weiss ich nicht alles, endlich ein bisschen Urlaub nimmt und beginnt, sich zu freuen über all die exotischen Neuankömmlinge in den Strassen der Austragungsstädte.»
Und in der oppositionellen Gazeta.ru hoffte die Dokumentarfilmerin Yulia Melamed in ihrer Kolumne auf eine nachhaltige Wirkung:
«Diese Erfahrung der Freude und Einheit, des Gefühls, Teil von Europa zu sein, wird nicht einfach weggehen. Sie wird bleiben und Veränderungen verursachen. Vielleicht sogar revolutionäre Veränderungen. Revolutionen passieren nicht auf den Strassen, sie passieren in unseren Köpfen.»
Das Auftreten der russischen Mannschaft wurde freudig, aber durchaus ambivalent kommentiert. «Es gab einfach keine Optimisten im Land, ausser denen, die es sein mussten», schrieb die führende Tageszeitung «Sovietski Sport» nach dem 5:0 Sieg im ersten Spiel gegen Saudi-Arabien. «Und wenn überhaupt nichts erwartet wird, erwacht etwas in unserer launischen Fussballnatur.»
Nach dem Sieg über Ägypten wurde die Stimmung noch besser, bevor die Niederlage gegen Uruguay die Dinge wieder ins Lot rückte. Eine der grösten Tageszeitungen Russlands «Argumenty i Fakty» mahnte mit Blick aufs Achtelfinale, die Gefühle im Zaum zu halten: «Unser Verhältnis zur Fussball-Nationalelf ist äusserst hysterisch geworden. Endlose Flüche wechseln sich mit überschwänglichem Lob ab.»
Ein Redakteur des «Sovietski Sport» sagt: «Sport ist anders. Der Raum, in dem wir arbeiten können, ist viel breiter.»
Sportmedien funktionieren in Russland nicht viel anders als in Westeuropa. Es sei denn sie berühren die unmittelbaren Interessen der Staatsführung. Bei Themen wie dem Dopingskandal, allgemeiner Korruption oder Umweltzerstörungen im Zuge der Olympischen Spiele in Sotschi greift auch hier das System der Selbstzensur.
Dennoch scheinen viele der Sportmedien insgesamt auf einer anderen Ebene zu existieren als politische Medien. «Die Sportjournalisten sind anders als diejenigen, die in den Politik-Resorts arbeiten», sagte zum Beispiel Dmitrij Simonow, der stellvertretende Chefredakteur von «Sport Ekspress», in einem Interview. «Wir sind keine laue Regenbogenpresse, sondern haben eher grosse Zähne.»
Ein anderer, Nikolai Jaramenko, Redakteur beim «Sovietski Sport» sieht das auch so. «Ich habe früher für eine politische Einrichtung gearbeitet. Das ist in Russland schwierig. Man bekommt Anrufe von oben, es gibt Druck, es gibt Selbstzensur. Sport ist anders. Der Raum, in dem wir arbeiten können, ist viel breiter.»
Die Serben sind auch keine Chorknaben
Zu sehen war das nach dem Match zwischen Serbien und der Schweiz. Normalerweise wird in einem Konflikt wie dem zwischen den Kosovo-Schweizern und ihren serbischen Gegenübern klar für die «slawischen Brüder» Partei ergriffen.
In «Sovietsky Sport» hiess es hingegen lapidar, die Serben seien auch keine Chorknaben. Es sei sinnlos, darüber zu sinnieren, wer hier wen mehr provoziert habe, aber Politik gehöre nunmal nicht ins Stadion, daran seien die Schweizer Nationalspieler zu erinnern. Deren Presse, erfuhr der russische Leser (zitiert wurden unter anderem der «Tages-Anzeiger» und die NZZ), sei gelinde gesagt auch nicht gerade erfreut gewesen über das Verhalten von Shaqiri und Xhaka.
Für reine Sportmedien gibt es in Russland mittlerweile einigen Freiraum. Trotzdem existiert eine Zensur bestimmter wichtiger Geschichten, die die Regierung mit dem Sport verbindet. Diese Zensur ist subtiler als zu Sowjetzeiten, aber sie existiert.
Schlimmer ist aber die wirtschaftliche Situation: Auf Sport spezialisierte Zeitungen oder Webseiten kämpfen um ihr Überleben, da Nachrichten immer öfter auf VKontakte (dem russischen Facebook) oder anderen sozialen Netzwerken gepostet werden. Die Printmedien treten in den Hintergrund und die Zukunft liegt auch hier eher in den Händen junger und technisch versierter Video-Blogger. Die nehmen sich deutlich grössere Freiheiten als etablierte Medien und sind nicht selten populärer.
Serbelnde Sportpresse
Die am weitesten verbreitete Sportzeitung Russlands ist nach wie vor «Sovietski Sport» und dabei vor allem ihre Spezial-Ausgabe «Sovietski Sport Futbol». Die täglich mit 16 Seiten erscheinende «Sovietski Sport» und die wöchentlich mit 24 Seiten erscheinende «Sovietski Sport Futbol» kommen auf eine Gesamtauflage von über 1,5 Millionen Exemplaren, was allerdings nicht viel ist im Vergleich zur Verbreitung zu Zeiten der Sowjetunion.
«Sovietski Sport» war 1924 als erste Sportzeitung der UdSSR gegründet worden und hatte 1988 noch eine Auflage von 5 Millionen. Die Zeitung kann sich nach wie vor auf eine alte Leserschaft verlassen, denn nichts ist in Russland so stark wie die Macht der Gewohnheit. Für das junge, urbane Publikum ist die Zeitung allerdings zu altbacken. Die Website kommt auf lediglich 40’000 Leser täglich und nimmt damit in der Liste der meistbesuchten russischen Sport-Webseiten nur den achten Platz ein. Es könnte für «Sovietski Sport» deshalb schwierig werden, noch den 100. Geburtstag zu erleben.
Auch für den einstmals grossen Konkurrenten von «Sovietski Sport» könnte die WM der letzte Höhepunkt werden. «Sport Ekspress», 1991 von unzufriedenen Redakteuren von «Sovietski Sport» gegründet, könnte seine Print-Ausgabe wohl nach dem Turnier einstellen. Zwar kaufen noch immer etwa 500’000 Russen täglich diese Zeitung, aber sowohl Niveau als auch Auflage sind seit Jahren im Sinkflug begriffen.
Sprachrohr des Establishments
«Sport Ekspress» galt in den 1990er Jahren als frische und innovative Alternative zu «Sovietski Sport» hat aber sein Engagement längst ins Internet verlegt und erreicht dort täglich 1,5 Millionen Russen. Allerdings gilt das Medium der jungen russischen Leserschaft als Sprachrohr des Establishments. Wenn Figuren wie der einstige Sportminister und Chef des russischen Fussballverbandes Vitaly Mutko zu Wort kommen, dann hier.
Das dritte grosse Printmedium, dass sich Fussball in Russland widmet, ist «Eschenedelnik Football» (der Titel entspricht in etwa der deutschen «Fussball-Woche»). Das Hochglanz-Magazin ist deutlich teurer als die beiden Konkurrenten und liefert vor allem schöne Fotos und Geschichten ohne kritischen Hintergrund. «Eschenedelnik Football» fällt eher unter leichte Lektüre und verfügt über eine wöchentliche Auflage von 700’000 Exemplaren – Tendenz steigend.
SMS vom Vorgesetzten
Unter den Sport-Webseiten ist Championat der Krösus. Die Seite kommt im Monat auf 6 Millionen Besucher und gilt als eines der Leitmedien, wenn es um Fussball und Sport im Allgemeinen geht. Fussballer wie Igor Akinfejew oder Igor Semak schreiben hier Kolumnen wie auch die Tennisspielerin Swetlana Kusnezowa.
Die Webseite wurde erst 2005 ins Leben gerufen und hat seitdem vor allem ein junges Publikum erreicht. Sie bietet sowohl ein umfangreiches Angebot an Tabellen und Statistiken als auch an Hintergrundberichten. Nur bei den wirklich brisanten Themen mit Berührungspunkten zur Politik hält man sich auch hier vornehm zurück.
Hohe Clickzahlen erreicht auch das Sportportal von Gazeta. Diese Webseite wurde 1999 gegründet und hat seitdem auch immer wieder regierungskritische Artikel veröffentlicht. Trotzdem wurde immer wieder die Unabhängigkeit dieser Seite in Frage gestellt.
Erst vor drei Jahren hatte eine Gruppe junger Hacker einen SMS-Chat veröffentlicht, in dem die damalige Chefredakteurin Swetlana Babajewa von einem der Verlagsmanager aufgefordert worden war, auf die Kritik eines bekannten Schriftstellers an den Olympischen Sommerspielen 2014 in Sotschi zu reagieren. Nur einen Tag später veröffentlichte Gazeta.ru einen Text, der die angeblich ungerechtfertigte Kritik seitens russischer Blogger an den Winterspielen in Sotschi thematisierte.
«Wie halten Sie es mit Putin?»
Dagegen zelebriert das Sport- und Fussballportal Sports seine Unabhängigkeit vom Establishment. Die Seite wurde 1998 gegründet und hatte bereits zwei Jahre später den ersten Intel Internet Award in der Kategorie Sport gewonnen. Für sports.ru schreiben mittlerweile die besten, jungen Fussball-Journalisten Russlands. Ihre Reportagen, Spielkommentare und Interviews müssen sich hinter denen ihrer europäischen Kollegen nicht verstecken. sports.ru ist gerade unter den jungen Grossstädtern wegen seines respektlosen Auftritts populär.
Das ist vor allem auch dem 31-jährigen Chefredakteur Yuri Dud zu verdanken. Dud ist in Russland mittlerweile eine landesweit bekannte Medienfigur. Im Februar 2017 eröffnete er einen YouTube-Channel namens vDud, auf dem er Interviews mit russischen Prominenten veröffentlicht. Darunter befinden sich kontroverse Personen wie der Oppositionelle Alexej Nawalny, der Sänger Sergej Shnurow, der Ultranationalist Wladimir Schirinowski, Michail Chodorkowski und der seit Monaten unter Hausarrest stehende Regisseur Kirill Serebrennikow.
Seine Interviews beendet Dud stets mit den Fragen: «Wie halten Sie es mit Gott?» und «Wie halten Sie es mit Putin?»