Warum Dezemberkinder weniger gefördert werden – und was im Schweizer Sport dagegen unternommen wird

Wer im spät im Jahr geboren worden ist, hat im Sport kleinere Chancen, gefördert zu werden. Das liegt daran, dass bei der Selektion talentierter Kinder die körperliche Entwicklung zu schwer gewichtet wird. Die Schweiz ist dabei, Mittel gegen diesen sogenannten Relativen Alterseffekt zu entwickeln. Aber das Ziel ist noch weit entfernt.

Grösser, stärker, schneller. Junioren-Trainer achten bei ihren Selektionen zu oft auf physische Vorteile. Im Bild: Juniorentag der Young Boys in Bern. (Bild: Keystone/Peter Klaunzer)

Wer im spät im Jahr geboren worden ist, hat im Sport kleinere Chancen, gefördert zu werden. Das liegt daran, dass bei der Selektion talentierter Kinder die körperliche Entwicklung zu schwer gewichtet wird. Die Schweiz ist dabei, Mittel gegen diesen sogenannten Relativen Alterseffekt zu entwickeln. Aber das Ziel ist noch weit entfernt.

Der Fall des FC Barcelona hat das Thema wieder einmal aufs Tapet gebracht: Was ist Talent? Wer hat Talent – und ab wann muss er oder sie deswegen speziell gefördert werden? Die Katalanen sammeln auf der ganzen Welt Kinder ein, um sie in ihrer legendären Fussballer-Schmiede La Masia zu formen. Elfjährige Japaner, 13-jährige US-Amerikaner und 15-jährige Südkoreaner – das widerspricht den Regeln des Weltfussballverbandes Fifa. Und eigentlich auch dem gesunden Menschenverstand. Denn wer kann schon die Entwicklung eines Elfjährigen bis ins Erwachsenenalter voraussagen?

Der Fall Barcelona zeigt allerdings, wie früh Kinder selektioniert werden, denen eine grosse Karriere im Profisport vorausgesagt wird. Bloss, werden auch die Richtigen gefördert? Wie wird Talent gemessen, woran wird erkannt, welches Kind das Potenzial hat, zum Spitzenathleten zu reifen?

Möglich, dass Barça andere Normen anwendet. Oft aber ist die Antwort erschreckend einfach: Meist sind die nackten Resultate der Massstab. Das aber führt zu einer erheblichen Diskriminierung jener Kinder, die spät im Jahr geboren sind.

Wo eingeteilt wird, wird es unfair

Kinder und Jugendliche werden im Sport – wie auch in der Schule – in Jahrgänge eingeteilt. Was zur Folge hat, dass wer im Dezember Geburtstag hat, fast ein Jahr jünger ist als seine Jahrgangskameraden, die im Januar geboren wurden. Bei einem Zehnjährigen macht das immerhin einen Zehntel seines gesamten Lebens aus. Entsprechend gross kann sein Rückstand in der körperlichen und geistigen Entwicklung sein.

Dieser Nachteil ist im Sport eins zu eins überall dort zu sehen, wo Kinder eines Jahrgangs in stärkere und schwächere Gruppen eingeteilt werden. Unter den selektionierten Kindern sind Geburtsdaten aus dem ersten Quartal des Jahres statistisch über-, jene aus dem letzten Quartal untervertreten. In der Wissenschaft bekannt ist das Phänomen unter dem Begriff Relative Age Effect, Relativer Alterseffekt (RAE).

«Betroffen sind alle Sportarten, in denen physische Merkmale eine Rolle spielen und Teamsportarten ganz besonders», sagt Michael Romann, der den REA bei der Eidgenössischen Hochschule für Sport in Magglingen wissenschaftlich untersucht hat und Wege sucht, um dem Effekt zu begegnen. Das jedoch erweist sich als äusserst kompliziert, obwohl das Phänomen längst international nachgewiesen ist. Romann stellt fest: «In den letzten zehn Jahren hat sich international kaum etwas verbessert.»

Die Proben zeigen: Der Effekt ist noch immer da

Tatsächlich lässt sich der Effekt weltweit nachweisen, wie die Untersuchung von über 240’000 Fussballergeburtstagen durch die TagesWoche zeigt. Besonders schön ist er bei jenen knapp 40’000 Fussballern mit einem Geburtsjahr nach 1993 zu sehen, die auf «transfermarkt.de» aufgelistet sind.

Aber auch in der Schweiz beweisen Proben, dass der Relative Alterseffekt noch immer deutlich sichtbar ist. In den Nachwuchs-Nationalteams in Fussball und Eishockey ist der RAE ebenso deutlich zu sehen, wie in der Talentschmiede des FC Basel oder bei jenen Junioren-Leichtathletinnen und -Leichtathleten, die von Swiss Olympic unterstützt werden.

Hier geht es zu unserer kompletten Daten-Auswertung mit Geburtsdaten von über 240’000 Sportlerinnen und Sportlern.

Der Relative Age Effect beginne immer dort, wo eine Selektion stattfindet, hadert Romann mit dem Auswahlverfahren: «Da wird viel zu häufig auf die Physis geschaut. Wer ist gross und kräftig? Auch wenn das nicht bedeutet, dass dieses Kind langfristig zum besseren Sportler wird.»

So findet eine Diskriminierung der Spätgeborenen statt. Denn wer selektioniert wird, profitiert von einer besseren Förderung. Und Romann konstatiert: «Generell verdeutlicht der Effekt den grossen Selektionsfehler, der gemacht wird. Wir verlieren nicht nur statistisch gesehen 15 Prozent der Talente aus dem letzten Quartal des Jahres. Wir fördern auch 25 Prozent jener, die im ersten Quartal geboren sind, obwohl sie langfristig kaum Perspektiven haben.»

Das ist einerseits ein ethisches Problem. Andererseits kann es sich ein kleines Land wie die Schweiz eigentlich gar nicht leisten, die Fördergelder an die Falschen zu verteilen – und zugleich echte Talente zu verlieren, weil sie ihren Jahrgangskollegen zur Zeit der Selektion körperlich unterlegen sind.

Einfaches Mittel – kaum umsetzbar

Aus wissenschaftlicher Sicht gäbe es ein ganz einfaches Mittel, um mit dem RAE aufzuräumen, meint Romann: «Am besten ist es, bis zum Abschluss der Pubertät so wenig wie möglich zu selektionieren. Danach hat der Effekt nur noch einen geringen Einfluss.»

Doch das lässt sich mit den beschränkten Mitteln, die der Sportförderung zur Verfügung stehen, nicht durchführen. Also hat das Bundesamt für Sport 2010 gemeinsam mit Swiss Olympic, dem Dachverband des Schweizer Sports, das Projekt «Piste» gestartet, um dem Problem zu begegnen. Auch Romann gehört zu den Autoren.

«Piste» steht für Prognostische Integrative Systematische Trainer-Einschätzung und soll dafür sorgen, dass zur Auswahl von Talenten nicht nur nackte Resultate und die momentane körperliche Leistungsfähigkeit herangezogen werden. So werden die Trainer angehalten, die innere Motivation ihrer Schützlinge zu beurteilen, ihr familiäres Umfeld, ihre psychische Belastbarkeit.

Zu den Spätgeborenen kommen die Spätentwickelten

Um die physischen Unterschiede während der Wachstumsphase auszugleichen, soll ein spät im Jahr geborenes Kind einen Bonus bei den zu Selektionen führenden Bewertungen bekommen. Dasselbe gilt für sogenannte Spätentwickler. Denn in der Kindheit gibt es nicht nur wegen eines frühen oder späten Geburtstermins im Jahr eklatante Unterschiede in der Entwicklung der Physis.

Die Wissenschaft spricht vom «biologischen Alter», wenn es um die körperliche Reife eines Kindes oder Jugendlichen geht. Während der Pubertät kann der Unterschied in der Entwicklung innerhalb eines Jahrgangs im biologischen Alter bis zu fünf Jahren betragen. Da muss sich im selben Team der eine schon rasieren, während der andere noch fast ein Kind ist. Auch dieses Problem sollte in der Schweiz mit der «Piste» angegangen werden.

Nach vier Projektjahren ist es noch zu früh, um ein abschliessendes Urteil zu fällen. Aber es gibt erste Indizien, die Romann noch nicht all zu optimistisch stimmen. Man sei weit davon entfernt, das Problem als gelöst zu betrachten, sagt der Sportwissenschaftler: «Der körperliche Vorteil scheint so stark zu sein, dass die Bonuspunkte für die Spätgeborenen und -entwickelten noch nicht ausreichen.»

In der Leichtathletik werden weniger Januarkinder selektioniert

Trotzdem hat die Piste durchaus Einfluss auf die Selektionen der Sportverbände. Bei den Leichtathleten von Swiss Athletics analysiert Isidor Fuchser als Chef Leistungssport Nachwuchs die Veränderungen. In seiner Sportart ist der RAE besonders stark. Und er verstärkt sich, je härter selektioniert wird. So stellte Swiss Athletics selbst fest, dass die Hälfte der Nachwuchskader-Athleten in den Monaten Januar bis März geboren wurden.

Mit der Einführung der Piste hat der Verband seine Selektionskriterien angepasst. Es wird vermehrt darauf geachtet, wie weit ein Jugendlicher in seiner körperlichen Entwicklung ist. «Wir versuchen, die Vergleichbarkeit von Gleichaltrigen möglichst zu objektivieren», sagt Fuchser und stellt eine Veränderung bei der Auswahl der Kader-Mitglieder fest, «bei den jüngeren Athleten, die nicht mehr selektioniert worden sind, hat es vor allem Januarkinder getroffen.»

Ist das eine Änderung zum Guten

Bloss weiss niemand, ob das eine Änderung hin zum Guten ist. «Ob die Selektionen korrekt waren, können wir noch nicht sagen», gibt Fuchser zu. Ganz einfach, weil es viel schwieriger ist, das Potential eines Kindes zu erkennen, als seine realen Ergebnisse anzuschauen

Auch darum werde Swiss Athletics nicht noch mehr Bonuspunkte für Spätgeborene verteilen, erklärt Fuchser: «Wenn wir bloss auf den Relative Age Effect eingehen, ist das zu sehr in die Glaskugel geschaut. Wer sagt uns denn, dass die Kinder, die jetzt körperliche Nachteile haben später doch noch gute Ergebnisse erzielen?»

Diese Garantie gibt es nicht, dazu steht Sportwissenschaftler Romann: «Obwohl wir von der Piste überzeugt sind, wird sich in der Praxis zeigen müssen, ob so mehr Talente gefunden werden.» Ganz abgesehen davon, dass der Einfluss der Piste nicht ganz einfach zu beweisen sein wird. Schliesslich spielen bei einer erfolgreichen Sportlerkarriere ganz viele Faktoren eine Rolle.

Wer gelobt wird und Erfolg hat, ist motivierter

Da wäre zum Beispiel die Psyche: Ein Kind, das sich im Wettkampf durchsetzt, erlebt einen Erfolgsmoment. Ganz egal, ob der Erfolg durch den Relative Age Effect oder durch eine frühe körperliche Entwicklung begünstigt wurde. Der Erfolg und das Lob motivieren das Kind – vielleicht trainiert es deswegen gar mehr oder härter. Kinder ohne Erfolgserlebnisse können im Gegenzug den inneren Antrieb verlieren und aufgeben.

Markus Graf, Head of Development bei Swiss Ice Hockey, glaubt, dass dieser Effekt sehr weit gehen kann: «Wer mehr Wertschätzung und Eiszeit erhält, der wird halt vielleicht schon dadurch zum besseren Spieler.» Und auch er fragt: «Wenn wir den Älteren, Grösseren nicht fördern – holen dann die Kleineren später wirklich auf? Ich kann nicht alle fördern.»

Aber auch Swiss Ice Hockey ist auf den RAE sensibilisiert. Bis in die Altersstufe der 16-Jährigen gibt es eine Regelung, die es Spätgeborenen erlaubt, wenn nötig in einer jüngeren Alterskategorie zu spielen.

Ein ähnliches System hat der Schweizerische Fussballverband (SFV) eingeführt. Die Fussballer gelten unter ihrem Technischen Direktor Peter Knäbel als Schweizer Vorreiter, was die Bekämpfung des Relativen Alterseffekts betrifft.

Der Fussballverband hat eine Quote für Spätgeborene

Der SFV geht noch einen Schritt weiter als die Hockeyaner. Er kennt in seinem Elitefussball-Projekt «Footeco» nicht nur eine vorgeschriebene Quote für Spätgeborene pro Team. Es ist auch obligatorisch, dass diese in einer Partie über drei Mal 30 Minuten mindestens eine halbe Stunde lang eingesetzt werden.

Bislang gab es «Footeco» nur für die Stufen U12 und U13. Dass es im Sommer auf die U14 ausgeweitet wird, ist die Folge einer Einsicht, die der Verband mit Blick auf seine Nachwuchs-Nationalteams gewonnen hat. «Wir haben ein Problem beim Übergang von der Breite in die Spitze», sagt Knäbel.

Die Nachwuchs-Nationaltrainer würden die Spieler zwar nach technisch-taktischen Kriterien selektionieren: «Aber auf der vorhergehenden Stufe wird noch zu sehr darauf geachtet, welchen Einfluss einzelne Spieler auf das Resultat eines Spiels haben.» Sprich – wenn der SFV jene Spieler auswählt, die er speziell fördern will, hat er nur noch Auswahl aus einer Gruppe, die bereits einen massiven Relativen Alterseffekt aufweist. Die restlichen Spieler sind schon vorher verloren gegangen.

Um diese Klippe zu umschiffen, schiebt der SFV nun den Übergang vom Breiten- zum Spitzenfussball um ein Jahr nach hinten. «Ich bin überzeugt, dass ‹Footeco› tauglich ist, den Effekt zu korrigieren», sagt Knäbel. Und gibt gleichzeitig zu: «Ob man ihn je weg bekommt, ist schwer zu sagen.»

Der Hunger der Trainer nach Erfolg

In Mannschaftssportarten kommt der Hunger nach dem Erfolg auf dem Platz erschwerend hinzu. Kaum ein Trainer, der nicht die momentan Besten aufstellt, um ein Spiel zu gewinnen. «Vor allem bis zur Stufe der U14 müsste ein Umdenken stattfinden», sagt denn auch Adrian Knup, als Vizepräsident des FC Basel für den Nachwuchs zuständig: «Da müsste mehr die Ausbildung der einzelnen Spieler zählen – auch mal auf Kosten eines Punktverlusts.»

Die Trainer des FCB seien durchaus sensibilisiert, sagt Knup, und «Der FCB hat schon immer auf technisch starke Spieler gesetzt.» Trotzdem weist der Basler Nachwuchs einen deutlichen RAE auf. Das hat auch mit den Resultaten zu tun, die Knup spätestens ab den unter 15-Jährigen schon wichtig sind: «Wir wollen eine Gewinnermentalität entwickeln. Die ist auch wichtig für die Entwicklung eines Spielers.»

Wobei sich die Tür für Spätentwickler beim FCB nicht komplett schliesst. Wer es knapp nicht in ein Nachwuchsteam der Rotblauen schafft, bekommt die Chance, via Partnerverein FC Concordia zu einem späteren Zeitpunkt wieder zum FCB wechseln zu können. «So fallen die Kleineren, Feineren nicht ganz aus dem Raster», sagt Knup.

Einen Trost gibt es für Dezemberkinder: Wer sich trotz widriger Umstände durchsetzt, kann später einen Vorteil haben. Bei kanadischen Eishockeyspielern etwa ist der Relative Alterseffekt im Juniorenbereich eklatant, kehrt sich aber um, wenn es um eine grosse Karriere geht: In der National Hockey League spielen viele Kanadier mit späten Geburtsdaten. Sie setzten sich als Junioren stets mit Technik und Taktik gegen harten Widerstand der stärkeren Konkurrenten durch. Als sie schliesslich körperlich aufgeholt hatten, waren sie schlicht besser als ihre Jahrgangskollegen.

Welche theoretischen Ansätze es gibt, um dem Relativen Alterseffekt zu begegnen, haben wir hier aufgelistet.

Quellen

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