Warum Simon Ammann das Skispringen retten muss

Der Wettbewerb auf den Schanzen leidet unter der erdrückenden Dominanz der Österreicher. Alle hoffen, dass Simon Ammann die Langeweile durchbrechen kann. Er weiss, wie man die Österreichen aus der Spur bringt.

Einen Ammann, heisst es in der Szene, muss man immer auf der Rechnung haben. (Bild: foto-net )

Der Wettbewerb auf den Schanzen leidet unter der erdrückenden Dominanz der Österreicher. Alle hoffen, dass Simon Ammann die Langeweile durchbrechen kann.

Wenn es doch bloss einer wäre. Wenn es nur einen von dieser springenden österreichischen Sorte geben würde. Dann wäre alles halb so wild und die Lage nicht so aussichtslos. Denn ein Ausrutscher ist schnell passiert, einmal ein schlechter Wind, ein verwackelter Telemark – und dann wäre sie endlich vorbei die Lufthoheit in Rot-Weiss-Rot. Und die leidgeprüfte Konkurrenz könnte in die Bresche springen.

Aber nein, die österreichischen Überflieger müssen ja immer gleich im Geschwader auftreten und auf den Skisprungschanzen dieser Welt alles in Grund und Boden springen. Getreu dem Motto: Ein Seriensieger kommt selten allein.

Die Konkurrenz zu Statisten und Flugbegleitern degradiert

Der amtierende Weltcup-Gesamtsieger? Ein Österreicher (Thomas Morgenstern). Der aktuelle Weltmeister auf der Grossschanze? Auch ein Österreicher (Gregor Schlierenzauer). Der aktuelle Weltmeister auf der Normalschanze? Natürlich ein Österreicher (Thomas Morgenstern). Der Triumphator der ersten drei Saisonspringen? Ein Österreicher (Andreas Kofler). Der amtierende Tourneesieger, die Mannschaftsweltmeister von Oslo auf Klein- und Grossschanze, der aktuelle Weltcupleader, ja selbst die jüngste Weltmeisterin im Damen-Skispringen – immer wieder Österreich. Das Land der Berge, es ist eigentlich ein Land der Adler.

Es herrscht längst Alarmstufe rot-weiss-rot rund um den Schanzentisch. In kaum einer Sportart ist eine Nation zu finden, die dermassen dominant auftritt und die Konkurrenz zu Statisten und Flugbegleitern degradiert, sieht man einmal von den deutschen Kunstbahnrodlerinnen ab, deren Siegesserie im Weltcup erst heuer im Februar nach 13 Jahren und 105 (!) Rennen gebrochen wurde.

Sechs Buchstaben und ein schelmisches Grinsen im Gesicht

So lange sollte es, so lange darf es im Skispringen nicht dauern. Denn so sehr man sich in Österreich über die Übermacht der heimischen Skispringer freuen mag, so sehr die österreichische Öffentlichkeit auf die Adler fliegt – der Sportart Skispringen tun die Seriensieger aus dem Nachbarland keinen Gefallen. «Wenn immer nur der FC Barcelona die Champions League gewinnt, wird es vielleicht irgendwann einmal fad», meint denn auch Thomas Morgenstern. «Ich glaube zwar, dass die Leute von unseren Leistungen fasziniert sind. Aber dass sie sich im Ausland mehr über uns ärgern, ist doch logisch.»

Die kollektive Hoffnung auf ein wenig Abwechslung, auf ein Ende der einseitigen österreichischen Angelegenheit hat sechs Buchstaben und ein schelmisches Grinsen im Gesicht. Ammann, Simon Ammann soll es richten. Wieder einmal liegt es am 30-jährigen Toggenburger, den dominierenden Österreichern einen Streich zu spielen und ihnen die Flugshow zu stehlen. Und wer wäre tatsächlich besser prä­destiniert für diese Mission als Ammann, der vierfache Olympiasieger, ein Weltmeister seines Faches (2007), der in der Vergangenheit schon mehrmals für die Morgensterne und Schlierenzauers zum lästigen Ärgernis geworden ist.

«Einen Ammann muss man immer auf der Rechnung haben»

Simon Ammann wird von den Österreichern geschätzt, mehr noch: er wird regelrecht gefürchtet. Denn der spitzfindige Toggenburger ist immer für eine Überraschung gut, er hat immer einen psychologischen Kniff auf Lager. «Einen Ammann muss man immer auf der Rechnung haben», weiss der österreichische Cheftrainer Alexander Pointner.
Wer erinnert sich nicht an die vergangenen Olympischen Spiele 2010 in Vancouver, als Simon Ammann die ÖSV-Adler komplett aus der Flugbahn warf und zwei Goldmedaillen gewann. Als der Schweizer in Whistler seine neue Bindung präsentierte, die mit einem Bindungs-Zapfen statt mit dem herkömmlichen Bindungsband ausgestattet war, wars um die Österreicher geschehen. Es herrschte hellste Empörung im österreichischen Team, Protestschreiben wurden verfasst, rechtliche Schritte geprüft – und Ammann, der sich die Bindung selbstverständlich von den Regelhütern hatte absegnen lassen, lachte sich ins Fäustchen.

Denn in der kollektiven Hysterie um diese Bindung waren den Österreichern Souveränität und die Leichtigkeit des Seins abhandengekommen. Als «Zapfen-Streich» ging Ammanns Manöver in die Geschichte ein, und die Österreicher ärgern sich noch heute über ihre Naivität. «Das Thema war zu aufgepusht», erinnert sich Thomas Morgenstern, «nur wegen einer Bindung wird man nicht Olympiasieger.»

Ammann und der Boom

Und Simon Ammann ist ja mehr. Er ist mit seinen vier Goldenen der erfolgreichste Skispringer in Olympischen Einzelkonkurrenzen, er hat den Gesamtweltcup gewonnen (2009/10), dazu 20 Weltcupspringen, er hat dem Skispringen in der Schweiz zu grosser Popularität verholfen, wie die vollen Tribünen am Wochenende 17./18. Dezember beim Heimweltcup in Engelberg wieder belegen werden.

Simon Ammann, der bereits 1997 sein Weltcupdebüt gab, hat in seiner Karriere also schon genug erlebt. Jeder hätte es verstanden, wenn er sich diesen Sommer mit seinen 30 Jahren in den Adler-Ruhestand verabschiedet hätte, niemand hätte es ihm verübeln können, wenn ihm nach eineinhalb Jahrzehnten im Spitzensport die Motivation abhandengekommen wäre – zumal auch sein langjähriger Schweizer Weggefährte Andreas Küttel einen Schlussstrich unter die Karriere gezogen hat.

Aber Simon Ammann hat immer noch ein grosses Faible fürs Fliegen, er will noch nicht am Boden bleiben. Auch wenn der Körper immer öfter zwickt und die monotone Vorbereitung oft zur Schwerstarbeit wird. «Ich fühle mich bereit, auch die schwierigen Phasen im Leben eines Spitzensportlers auf mich zu nehmen», erklärt der 30-Jährige, «das inn ere Feuer brennt. Mein Beruf macht mir immer noch grossen Spass.»

Einige Grössen sind abgetreten

Die Skisprung-Fans haben Ammanns Entscheidung mit Genugtuung und Erleichterung registriert. Denn dem Skisprung-Sport sind über den vergangenen Sommer schon genug Protagonisten und Charismatiker abhandengekommen, sodass die Übermacht der Österreicher nur noch mehr zementiert wurde.

Adam Malysz (Polen) hat ebenso die Karriere beendet wie Janne Ahonen (Finnland). Beide haben die Skisprung-Szene in den letzten 15 Jahren mitgeprägt und gemeinsam 75 Weltcupsiege gefeiert sowie sechs Mal den Gesamtweltcup und die Vierschanzen-tournee gewonnen.

Ein begehrter Triumph ist den beiden Überfliegern freilich versagt geblieben. Es ist für die Männer, die sich Adler nennen ein Adelsprädikat, für das es keine eigene Trophäe gibt. Es handelt sich um einen Titel, der nur vier Skispringern der Welt vergönnt war und dem auch Simon Ammann noch hinterherspringt: der Grand Slam.

Der erlauchte Kreis

Grand-Slam-Sieger dürfen sich jene Skispringer nennen, die in ihrer Karriere Olympia-Gold, WM–Gold (beides im Einzel), den Gesamtweltcup sowie die Vierschanzentournee gewonnen haben. Dieses Kunststück ist bislang nur Matti Nykänen, Jens Weissflog, Espen Bredesen und Thomas Morgenstern gelungen.

Simon Ammann fehlt zur Aufnahme in diesen erlauchten Kreis nur noch der Sieg bei der prestigeträchtigen Vierschanzentournee. Der Klassiker, der in diesem Winter in seine 60. Auflage geht, hat dem Toggenburger in der Vergangenheit wenig Glück gebracht. Alle Jahre wieder war Ammann als Mitfavorit in die Tournee gestartet, jedes Jahr wurde er von einem Springer überflügelt, der ausgerechnet in dieser Saisonphase zur Hochform aufgelaufen war. Allein in den letzten drei Jahren musste sich Simon Ammann zwei Mal mit dem zweiten Platz begnügen – jeweils hinter einem Österreicher, versteht sich.

Mission Tourneesieg

Deshalb hat der 30-Jährige in der Vorbereitung alles der Mission Tourneesieg untergeordnet. Ammann tüftelte noch akribischer an seinem Material, er trimmte trotz Rückenproblemen noch intensiver seinen Körper, und er verzichtete auch auf den Weltcupauftakt in Kuusamo, weil ihn die grosse Kristallkugel nicht mehr interessiert. Denn er will partout nicht wahrhaben, was er in der Vergangenheit schon einmal in einem Anflug von Resignation verkündet hatte. «Die Tournee ist nicht für mich gemacht.»

Bei der 60. Tournee wird in diesem Jahr eine Rekordprämie ausgelobt. Sollte ein Skispringer wie weiland Sven Hannawald (2001/02) alle vier Wettbewerbe gewinnen, winken eine Million Franken Preisgeld. Doch Simon Ammann hätte diese Zusatzmotivation erst gar nicht benötigt, der Grand Slam ist für ihn Ansporn genug.

Langfristig wird jedoch auch er das Österreicher-Problem nicht lösen können. Der Blick in die Geburtsurkunden von Thomas Morgenstern und Gregor Schlierenzauer gibt wenig Hoffnung auf ein Ende der Lufthoheit. Morgenstern ist eben 25 geworden, und Schlierenzauer, der mit 36 Weltcup-Einzelsiegen bereits die Nummer 3 der ewigen Bestenliste ist (Leader: Matti Nykänen mit 46 Siegen) hat mit seinen knapp 22 Jahren die Zukunft noch vor sich. Der eine also ist nicht in Sicht.

Die Meister aller Klassen

Matti Nykänen (48, Fin):
> Olympiasieger: 1984 Grossschanze, 1988 Normal- und Grossschanze
> Weltmeister: 1982 Grossschanze
> Gesamtweltcup: 1982/83, 1984/85, 1985/86, 1987/88
> Vierschanzentournee: 1982/83, 1987/88

Jens Weissflog (47, D)
> Olympiasieger: 1984 Normalschanze, 1994 Grossschanze
> Weltmeister 1985 Normalschanze, 1989 Normalschanze
> Gesamtweltcup: 1983/84
> Vierschanzentournee: 1983/84, 1984/85, 1990/91, 1995/96

Espen Bredesen (43, Nor)
> Olympiasieger: 1994 Normalschanze
> Weltmeister: 1993 Grossschanze
> Gesamtweltcup: 1993/94
> Vierschanzentournee: 1993/94

Thomas Morgenstern (25, Ö)
> Olympiasieger: 2006 Grossschanze
> Weltmeister: 2011 Normalschanze
> Gesamtweltcup: 2007/08, 2010/11
> Vierschanzentournee: 2010/11

Simon Ammann (30, Sz)
> Olympiasieger: 2002 und 2010 (jeweils Normal- und Grossschanze)
> Weltmeister: 2007 (Grossschanze)
> Gesamtweltcup: 2009/10
> Vierschanzentournee: ?

Die Weltcupspringen in Engelberg: Sa/So, 17./18. Dezember, jeweils 13.45 Uhr (SF2 ab 14.20 Uhr live). 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 16/12/11

Nächster Artikel