Nach dem Halbfinal-Sieg von Stan Wawrinka gegen Kei Nishikori (4:6, 7:5, 6:4, 6:2) trifft der Schweizer auf Novak Djokovic. Die Chancen für Wawrinka stehen gut.
Wenn Stan Wawrinka auf seine Arbeitsbilanz gegen Novak Djokovic schaut, kann er eigentlich nicht zufrieden sein. Seit zehn Jahren begegnen sich der Schweizer und der Serbe auf den Centre Courts des weltweiten Tennisbetriebs, und Djokovic dominiert auch dieses ganz persönliche Duell mit einigermassen grosser Deutlichkeit.
Aber so klar, wie die Verhältnisse auf den ersten Blick scheinen, sind sie gar nicht. Weder für Wawrinka, den Mann, der nur vier von 23 Matches gegen den Capitano der Branche gewinnen konnte. Und auch nicht für Djokovic, den Nummer-1-Spieler, der über viele Jahre so etwas wie ein Angstgegner für Wawrinka war. Und dann aber unfreiwillig zu dessen spätem Aufstieg in die engere Weltspitze beitrug.
«Die Matches gegen Djokovic sind etwas ganz Besonderes in meiner Karriere gewesen», sagt Wawrinka, der bei den US Open 2016 erstmals das Finale des abschliessenden Saison-Majors erreichte und, welch Wunder, auf den wohlvertrauten Frontmann und Weggefährten trifft.
«Absoluter Wahnsinn»
Wawrinka, wegen des Zwangsverzichts von Roger Federer der einzige Schweizer von Belang in der Grand Slam-Konkurrenz, hatte am Freitagabend in drückender Schwüle den japanischen Superstar Kei Nishikori nach einem Stotter-Start noch souverän mit 4:6, 7:5, 6:4 und 6:2 besiegt.
«Es ist verrückt, in diesem Finale zu stehen. Absoluter Wahnsinn», sagte Wawrinka, und er sagte es vielleicht auch, weil er in diesem berauschenden Moment noch einmal an das Zittern und Zagen in der dritten Runde dachte, an jene Augenblicke im Match gegen den Briten Dan Evans, in denen er sogar einen Matchball gegen das frustrierend frühe Turnier-Aus hatte abwehren müssen.
«Durchbruchmoment für Stan»
Nun aber wieder ein Endspiel, das dritte grosse Finale in der dritten Saison hintereinander. Und wieder ein Vergleich mit Djokovic. «Wenn du gegen ihn spielst, bringt es das Beste aus dir selbst heraus», sagt Wawrinka.
So wie in jenem legendären Achtelfinale in Melbourne, vor gut dreieinhalb Jahren, als der immer schon talentierte, immer schon ambitionierte Wawrinka plötzlich eine ganz andere Statur auf grösster Grand Slam-Bühne zeigte und den haushohen Favoriten in einen begeisternden Fünf-Satz-Marathon zwang – Wawrinka verlor 10:12 im Schluss-Akt, aber er gewann auch. Nämlich das Selbstvertrauen und die Gewissheit, mit den Besten der Besten in seinem Sport mithalten zu können. Dort, wo es zählt, bei den Grand Slam-Turnieren. «Es war der Durchbruchmoment für Stan», sagt sein Trainer Magnus Norman.
Von Federer emanzipiert
Ein Jahr später, im Januar 2015, trafen sich Wawrinka und Djokovic in Melbourne wieder, auf dem Centre Court, in der Rod Laver-Arena – und wie zur Bestätigung des späten Karriereaufschwungs kämpfte sich Wawrinka in einem neuerlichen Duell über die volle Distanz, nun im Viertelfinale, gegen den Spitzenmann durch. Es war auch der entscheidende Sieg vor dem noch grösseren Sieg, vor dem ersten Major-Triumph, an der Schwelle zu seinen Dreissigern.
Wawrinka hatte sich da gleich von zwei Spielern emanzipiert, von Roger Federer, in dessen Schatten er sich einige Zeit auch etwas zu behaglich und gemütlich eingerichtet hatte, bevor er mehr Courage zeigte und die nötige professionelle Statur zeigte. Aber eben auch von Djokovic, gegen den er nun aus der Verlierer- und Opferrolle schlüpfte und sich selbst einen Platz im engeren Eliterevier zuwies.
Wawrinka als Favorit
Die Wege von Wawrinka und Djokovic kreuzten sich häufiger, ganz einfach, weil der zweite Schweizer in der Weltspitze nicht immer, aber immer öfter in entscheidenden Turnierrunden auftauchte. Im Juni 2015 verdarb er Djokovic sogar (vorerst) dessen grossen Lebenstraum, den Gewinn des letzten fehlenden Grand Slam-Titels in Paris. Wawrinka siegte in vier Sätzen, er war nicht nur in jenem Finale einer der wenigen Spieler der Gegenwart, die in eigener spielerischer Pracht mit Djokovic mithalten und ihn bezwingen können. «Ich weiss, dass diese Kraft in mir steckt», sagt Wawrinka, «dieses Zutrauen habe ich mir auch hart erarbeitet.
Wawrinka geht in das letzte Duell von New York sogar als Favorit, denn Djokovic wirkt angeschlagen und ermattet nach den Strapazen der letzten Monate. Immer wieder liess er sich im Turnierverlauf behandeln, an den Handgelenken, an beiden Schultern zuletzt auch im Halbfinale gegen den enttäuschenden Franzosen Monfils. Djokovics Trainer Marijan Vajda erklärte sogar in einem Interview, dass vor dem Turnier lange Zeit eine Absage im Raum gestanden habe wegen der körperlichen Schwierigkeiten. Djokovic bekam vieles geschenkt in diesem Turnier, zur zweiten Runde musste er wegen einer Verletzung des Russen Juschni gar nicht antreten, in der dritten Runde und im Viertelfinale (Tsonga) gaben seine Gegner auf.
Selbst das Halbfinale gegen den gespenstisch uninspirierten Monfils erschien noch wie ein Spaziergang. Im Finale darf Djokovic auf keine Präsente mehr hoffen, gegen jenen Wawrinka, der ihm inzwischen auf Augenhöhe gegenüber tritt. «Ich will den Titel hier mit aller Macht», sagt Wawrinka.