Wawrinka: Schicksalswochen eines Aussenseiters

Stan Wawrinka startet als Aussenseiter in die ATP Finals in London. Er selber fühlt sich bereit für eine Überraschung. Ein Erfolgserlebnis wäre wichtig, denn nach London steht noch das Davis-Cup-Final gegen Frankreich an.

epa04436507 Stanislas Wawrinka of Switzerland in action against Gilles Simon of France during their second round match at the Shanghai Tennis Masters in Shanghai, China, 08 October 2014. EPA/DIEGO AZUBEL (Bild: Keystone/DIEGO AZUBEL)

Stan Wawrinka startet als Aussenseiter in die ATP Finals in London. Er selber fühlt sich bereit für eine Überraschung. Ein Erfolgserlebnis wäre wichtig, denn nach London steht noch das Davis-Cup-Final gegen Frankreich an.

Ein Blick auf die zwiespältige Saisonbilanz von Stan Wawrinka führt gleich auch etwas ganz anderes vor Augen. Unwillkürlich denkt man an seinen Freund und Landsmann Roger Federer, an Rafael Nadal und an Novak Dojokovic, und es wird einem wieder einmal klar, welch gewaltige und grandiose Leistung diese Spitzenleute seit Jahren kontinuierlich auf höchstem Niveau vollbringen, wie beeindruckend es ist, dass sie den grosses Rest der Tenniswelt gebührend auf Distanz halten.

Eigentlich geht es dem schwankenden Wawrinka, der das Ganze aus nächster Nähe beobachtet, wie den meisten Experten, Fans und Medienmenschen: «Diese Spieler haben ganz früh in ihrer Karriere grosse Turniere und Titel gewonnen. Und dann ihr hohes Niveau gehalten», sagt der Weltranglisten-Vierte. «Ich brauchte fast ein ganzes Jahrzehnt, um mir meinen Grand-Slam-Traum einmal zu erfüllen. Das ist schon ein gewaltiger Unterschied.»

2014 – ein weiteres Lehrjahr

Wenn Wawrinka heute Montagnachmittag mit dem Spiel gegen den formstarken Tschechen Tomas Berdych in die Gruppenphase der ATP World Tour Finals startet, steht er nicht viel anders da als bei seiner Premiere im Jahr 2013. Der 29-jährige Waadtländer ist ein ambitionierter Aussenseiter, ein unberechenbarer, gefährlicher Rivale für seine Mitbewerber, ein Mann, der jeden schlagen, aber auch gegen jeden verlieren kann in der Londoner O2-Arena. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Weder in Wawrinkas Gestalt noch in der von Spielern wie Milos Raonic, Kei Nishikori oder Marin Cilic drückt sich ein Umsturz in der Branchen-Hierarchie oder eine Neuvermessung der Tenniswelt aus, sie alle haben auch in dieser Spielzeit nicht nachhaltig Schrecken beim Establishment verbreitet oder es gar in den Schatten gestellt. «Es war nicht leicht, diesen Grand-Slam-Erfolg zu verarbeiten. Zu merken, was solch ein Titel an Verpflichtungen und Anstrengungen ausserhalb des Tennisplatzes bedeutet», sagt Wawrinka, «deshalb war 2014 auch noch einmal ein Lehrjahr für mich. Mit wichtigen Erfahrungen für den Rest meiner Karriere.»

Bereit, wenn niemand auf ihn setzt

Zunächst stehen noch zwei aussergewöhnliche Arbeitswochen für den Fast-Dreissiger an, in denen ein äusserst versöhnlicher Saisonabschluss möglich ist. Und zumindest beim Klassentreffen der ATP-Elite hat Wawrinka nicht viel zu verlieren, nachdem er sich mit frustrierenden Ergebnissen in diesem Tennis-Herbst komplett aus dem Rampenlicht und auch aus dem Kreis der Titelanwärter gespielt hat.

Oft genug hat Wawrinka aus einer vergleichbaren Situation heraus seine besten Centre-Court-Momente gehabt, dann, wenn ihm niemand, nicht einmal die eigenen treuesten Fans, einen Sondereffort zutrauten. «Mental ausgeruht und körperlich frisch» fühlt sich Wawrinka, er sei in der Lage in London durchaus etwas zu reissen: «Die Motivation für dieses Turnier ist riesengross. Ich spüre, dass einiges möglich ist für.» So wie 2014, als Wawrinka als Debütant sofort ins Halbfinale vorrückte und bleibenden Eindruck bei den Londoner Tennisfreunden hinterliess.

Fanal für den Davis-Cup-Final

Wawrinka balanciert allerdings auf einem schmalen Grat, denn mit Blick auf den folgenden Davis-Cup-Titelfight in Lille sind zwei Szenarien möglich: Entweder tankt die Nummer 4 der Welt bei dieser WM der Solisten kräftig Selbstbewusstsein für den Finalauftritt mit dem Team – oder er geht als heftig Gescheiterter verunsichert in die allerletzte Tenniswoche des Jahres. «Nicht vergleichbar» seien die beiden Anlässe, hat Wawrinka vor dem Start in das Londoner Turnier erklärt, aber sie haben doch miteinander zu tun. Isoliert lässt sich das eine vom anderen nicht betrachten, so sehr Wawrinka sich das auch wünschen mag.

Am einfachsten würde Wawrinka es sich mit einem Auftaktsieg über Berdych machen, in einem Spiel, das viele Fachleute bereits als ein kleines Finale um Platz zwei in dieser Vorrundengruppe ansehen. Wawrinka könnte dann auch wesentlich entspannter in die weiteren Partien gegen Turnierfavorit Novak Djokovic und gegen US-Open-Champion Marin Cilic gehen. «Meine Form ist da im Training», sagt Wawrinka, «jetzt muss ich sie nur auf den Platz bringen, wenn es zählt.» Wenn das nur so einfach wäre.

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