Die Engländer finden alle zwei Jahre neue Wege, sich in exotischen Gefilden aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen. Die WM 2014 zeigt ein grundlegendes Problem der englischen Liga: Taktgeber sind ausländische Spieler.
«Ich darf nichts sagen», sagte Jordan Henderson. Wer sich wo und wann nach wichtigen Spielen (sprich: Niederlagen) äussert, ist bei den Engländern eine streng reglementierte Prozedur. Es soll verhindert werden, dass sich der eine oder andere zu unbedachten, schlagzeilenträchtigen Gedanken hinreissen lässt; auch auf die Gefahr hin, dass so das Denken an sich etwas zu kurz kommen könnte.
Die hermetische Abschirmung der Elf mit den «drei Löwen» von allen die Ruhe störenden, Dissonanzen aufwerfenden Einflüssen abseits des Rasen mag eine der Gründe sein, warum die Spieler, gut bezahlt und der heimischen Liga durchaus stressresistent, alle zwei Jahre neue Wege finden, sich von unvorhergesehen Situationen in exotischen Gefilden aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen.
Kapitän Steven Gerrard aber sprach nach dem 1:2 gegen Uruguay, er musste es tun. Zunächst ging es um die schrecklichen Gefühle, um den Frust, nach zwei im Grunde ansehnlich bestrittenen Partien nicht mehr als mit «einem Strohhalm in der Hand» dazustehen. Theoretisch bestand Donnerstagnacht noch die verdammt vage Aussicht, mit Hilfe der Azzurri die Qualifikation fürs Achtelfinale zu schaffen; auf so ein blaues Wunder vertrauen zu müssen, fiel den Engländern jedoch so schwer, dass sie sich lieber vorzeitig aus dem Turnier verabschiedeten.
«Unsere Chancen sind unglaublich winzig», sagte Trainer Roy Hodgson, «wir hätten einen Sieg oder ein Unterschieden gebraucht, um weiter zu kommen. Beides haben wir nicht bekommen.»
Eine englische Mannschaft hatte zuvor noch nie die ersten zwei Partien bei einer Weltmeisterschaft verloren. Gerrard schien die historische Dimension der Enttäuschung bewusst zu sein, es war nicht die erste für ihn in in diesem Jahr. Die 34-Jährige Ikone des FC Liverpool kostete die Reds mit einem Ausrutscher gegen Chelsea die erste Meisterschaft seit 24 Jahren, hier kam er vor dem 0:1 (Suárez, 39.) in einem Zweikampf an der Mittellinie zu spät und leitete fünf Minuten vor Ende der Partie er mit einem misslungenen Kopfball unfreiwillig den zweiten Treffer seines Klubkameraden vor.
Suarez jubelt, dass ausgerechnet der Liverpoolspieler, dies tat, hat eine tiefere Logik. (Bild: PAULO WHITAKER)
Dass ausgerechnet der auf der Insel beschäftigte Suárez die Engländer bis vor einen Millimeter vor den Abgrund bugsierte, war keineswegs überraschend («wenn man Weltklassestürmern wie ihm Chancen gibt, dann treffen sie, wir wussten das», sagte Gerrard) und besass zugleich eine tiefere Logik.
Das international geliebte Produkt Premier League holt sich die besten Spieler und Trainer der Welt ins Land, doch diese unterhalten auf Kosten der Einheimischen. Stammplätze in Spitzenvereinen sind für Hodgsons Leute rar gesät. Verschärft wird die Misere, weil zwar die gute Technik der Ausländer abfärbt, aber nicht deren theoretisches Know-how – die Fähigkeit, eigenmächtig auf dem Platz auf Veränderungen zu reagieren.
Einen Reporter erinnerte diese Attitüde an Englands Kamikazeauftritt gegen Deutschland in Bloemfontein vor vier Jahren (1:4). «Die Lernkurve war hier sehr steil für uns», entgegnete Gerrard, und er meinte: zu steil. England, das ist sein eigentliches Schicksal, lernt nicht aus seinen Problemen, es bekämpft sie mit massloser undurchdachten Vehemenz. Wie ein Raucher, der sich um das Paffen abzugewöhnen zur Flasche greift.
Auf Reaktion auf die WM 2010 hatte Hodgson dem Team bei der EM eine radikale Defensivtaktik verschrieben, die das Publikum verstörte. In Brasilien liess sich 66-Jährige unter dem Einfluss der Öffentlichkeit auf ein Vabanque-Spiel mit international unerfahrenen Talenten ein. England verlor so wieder auf urenglische Weise – wenn auch nicht im Elfmeterschiessen – und Hodgson kann sich für die EM in zwei Jahren gleich wieder den nächsten abrupten Kurswechsel ausdenken. Wenn man ihn denn lässt.
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