Die Rückblende reicht eine ganze Weile zurück, in die Nullerjahre und die gemeinsame Zeit von László Bölöni und Alex Frei bei Stade Rennes. Bölöni war der aus Siebenbürgen stammende ehemalige grosse rumänische Nationalspieler und Trainer des bretonischen Klubs. Frei war der kleine Schweizer, der über Biel-Benken, die Junioren des FC Basel, Thun, Luzern und Servette Genf in der Ligue 1 gelandet war und in jedem zweiten Spiel traf.
Aus dieser Zeit stammt eine kleine Episode, von der Alex Frei – auch das liegt länger zurück – einmal berichtet hat. Es geht um die letzte Geste. Um den Moment, wenn der Ball auf das Tor zufliegt oder einschussbereit vor dem Fuss liegt. Also quasi um die Krönung des Fussballspiels.
Wenn man Mohamed Salah zuschaut, der gerade die Freunde dieses Sports weltweit in Verzückung versetzt, wenn man all die vielen Tore sieht, die er in den vergangenen Monaten erzielt hat und mit denen er einen gewichtigen Anteil am Weg des Liverpool FC bis in den Champions-League-Final an diesem Samstag gegen Real Madrid hat, dann fällt in vielen Momenten die Geste auf, mit der Salah finalisiert.
Und weil der junge Mohamed Salah seinen europäischen Weg in Basel begonnen hat, just als der Haudegen Alex Frei im gereiften Torjägeralter mit zuverlässiger Quote den FCB von Titel zu Titel schoss, haben wir uns auf Spurensuche begeben. Wir haben versucht, die letzte Geste zu ergründen, haben Alex Frei gefragt, ob er tatsächlich Mohamed Salah das Toreschiessen beigebracht hat und wie er den zu einem Megastar des Fussballs gewachsenen Salah heute sieht.
@MoSalah has won the PFA Fans‘ Player of the Year award after claiming 89% of the overall votes: https://t.co/CtpuRFBapg#PFAawardspic.twitter.com/GzgkEV7uNU
— Liverpool FC (@LFC) 21. Mai 2018
«Die letzte Geste vereint alles im Fussball»
Das mit Bölöni und der letzten Geste geht ungefähr so: Im Winter 2002/03 wechselt Frei zu Stade Rennes und kommt zunächst unter Trainer Vahid Halilhodzic mal mehr und mal weniger zum Einsatz (1 Tor). Nach einem halben Jahr folgt Bölöni auf den Bosnier. Frei spielt anfangs erst so gut wie gar nie, und dann beginnt er zu treffen. 20 Mal in 28 Spielen, zweitbester Torschütze der Ligue 1. Damals sagt ihm Bölöni: «Die letzte Geste ist die schwierigste im Fussball.»
In der darauffolgenden Saison wiederholt Frei seine Trefferzahl und wird im Trikot des Provinzvereins Torschützenkönig Frankreichs. Das Renommee wird ihn dann später zu Borussia Dortmund bringen und anschliessend als damaligen Rekordtransfer heim nach Basel.
Die letzte Geste beim Torschuss – einem Laien würde es der Torjäger Alex Frei so erläutern:
«Die letzte Geste vereint eigentlich alles, alle Attribute im Fussball: Da steckt die Technik drin, die athletische Komponente, die Konzentration. Weil du in diesem Moment wählen musst: linker oder rechter Fuss, Vollspann, Innenseite oder Aussenrist. Vor allem ist es der mentale Aspekt bei der letzten Geste. Sie beinhaltet so viel.
Die letzte Geste in einem Drittliga-Match hat sicherlich eine weniger grosse Bedeutung als in einem Champions-League-Spiel. Geht es um drei Punkte zwischen Platz 5 und 6 oder geht es um Platz 1? Sind es 200 Zuschauer oder 80’000? Du spürst als Spieler in diesem Moment die Erwartungshaltung der Leute: Jetzt passiert das Goal. Das ist der mentale Druck.
Für diesen Moment hast du im Training gearbeitet. Der mentale Aspekt bedeutet auch: Je mehr Tore du schiesst, desto einfacher wird es, desto mehr Selbstvertrauen hast du und desto mehr wird die letzte Geste zu einem Automatismus. Das heisst ausserdem: Wenn du eine Chance vergibst, weisst du, dass du im Normalfall eine zweite und dritte Möglichkeit bekommen wirst. Mentale Stärke bedeutet, dass du dann halt den zweiten oder dritten Ball reinmachen musst.»
Dann taucht eines schönen Tages im Sommer 2012 Mohamed Salah beim FC Basel auf. Man merkt sofort, dass der fliegende Ägypter mit seinem Nähmaschinenantritt einer ist, der Fantasien bei den Leuten auf den Zuschauerrängen weckt. Der sie verzückt – aber auch öfter an den Rand der Verzweiflung treibt.
Salah ist da schon Nationalspieler, gerade 20 Jahre alt geworden und schon ein Star in seiner Heimat, der die Facebook-Likes beim FC Basel quasi über Nacht auf zwei Millionen explodieren lässt. Und der beim FCB anfangs Chancen am Laufmeter liegen lässt. Der ganz normale Werdegang eines jungen Spielers also. Alex Frei erinnert sich:
«Er war sehr talentiert. Unglaublich schnell, wild in seinen Aktionen, keine Struktur im Spiel, aber ein riesiges Rohpotenzial. Ausserdem war er ein toller Typ, eher scheu, aber immer für einen Spass zu haben. Er hat sich sehr gut integriert in die Mannschaft, und er war lernwillig.»
Alex Frei ist da längst schon eine Ikone des hiesigen Fussballs. Rekordtorschütze der Nationalmannschaft mit einem Treffer in jedem zweiten seiner 84 Länderspiele für die Schweiz. Eine polarisierende Figur auch, einer, der es Aussenstehenden nicht einfach macht, ihn sympathisch zu finden. Einer, der vom Ehrgeiz angestachelt ist, das Beste aus dem herauszuholen, was die Natur ihm an Talent mitgegeben hat, und sich den Rest zu erarbeiten. Ist die letzte Geste also Begabung oder kann man das trainieren? Alex Frei sieht es so:
«Beides. An der richtigen Stelle zu stehen, zu antizipieren oder auch zu spekulieren, wo der Ball hinkommen könnte, die Nase hat man – oder man hat sie nicht. Die Geste an sich ist erlernbar. Das hat mit Technik zu tun, mit Vertrauen, mit Abläufen, mit Automatismen, die man trainiert.
Ich hatte meine Anhaltspunkte im Sechzehner oder aus 17, 18 Metern, wo ich – unabhängig davon, wo das Tor steht – wusste: Wenn ich den Ball so oder so annehme und schiesse, dann kommt er vom Winkel her aufs Tor – und geht rein.»
Der Linksfüsser Alex Frei und der Rechtsfüsser Mohamed Salah stürmen also in der Saison 2012/13 Seite an Seite für den FC Basel. Wobei: Nur 20 Mal stehen beide gemeinsam auf dem Platz. Es ist eine aufwühlende, eine anstrengende Mammutsaison mit 62 Wettbewerbsspielen. Mit der verpassten Champions League gegen Cluj, mit der Entlassung von Trainer Heiko Vogel Knall auf Fall, mit einem Husarenritt durch die Europa League und dem ersten Halbfinal auf internationaler Ebene in der Geschichte des FCB, mit dem verlorenen Cupfinal gegen GC und schliesslich der Meisterschaft.
Unter Trainer Murat Yakin muss Frei auf seine alten Tage hin auch ein bisschen leiden, gleichzeitig geht der Stern von Salah auf. Aus diesen gemeinsamen Tagen hält sich hartnäckig die Erzählung, dass der alte Kämpe dem Novizen auf die Sprünge geholfen hat. Alex Frei stellt das so dar:
«Ich hatte das Bedürfnis, ihm etwas weiterzugeben. Er hat sehr vieles richtig gemacht, aber Entscheidendes falsch. Also habe ich ihn nach dem Training zur Seite genommen und habe ihm gewisse Sachen gezeigt, was möglich ist und was man sich merken muss, wenn man wo in welche Situation kommt.»
Was das konkret bedeutet? «Betriebsgeheimnis», entgegnet Frei zunächst, um dann doch ein bisschen davon preiszugeben:
«Der Saisonverlauf hat es damals gar nicht erlaubt, viel Zeit für individuelles Training zu haben. Aber im Sechzehner gibt es gewisse Automatismen, die man lernen und üben kann. Ich halte es immer so: Je mehr man macht, desto besser wird es, desto mehr Selbstvertrauen bekommst du. Denn du bist kein Talent, wenn du dich nicht entwickelst.
Ich habe mich immer selbst herausgefordert. Und ich war ein Gambler. Ich habe mir einen Stecken in die Torecke gestellt, das waren erst zwei Meter bis zum Pfosten und zum Schluss hat in die Lücke zwischen Stecken und Torpfosten gerade mal der Ball durchgepasst. Die Herausforderung war, zehn, zwanzig oder dreissig Mal in diese Lücke zu treffen. Egal aus welcher Position und egal mit welchem Fuss. Je schwieriger, desto besser.»
Am 14. April 2013 trennen sich die Wege. Alex Frei zirkelt mit der Captainbinde am Arm in seinem letzten Spiel gegen den FC Zürich noch einen fantastischen Freistoss ins Tor und wird in der 64. Minute gegen Marco Streller ausgewechselt. In der 76. Minute kommt Mohamed Salah für David Degen. Am nächsten Tag fängt Frei als Sportchef beim FC Luzern an, und Salah macht sich in den Folgemonaten so unwiderstehlich, dass er Ende Januar 2014 quasi über Nacht beim Chelsea FC in London landet.
Der FCB und der Rolls-Royce Salah
Rund 20 Millionen Franken Ablösesumme machen Salah damals zum teuersten Spieler, der je von einem Schweizer Club transferiert wurde. Eine monströse Rendite angesichts der knapp drei Millionen Franken, die der FCB aufzuwerfen bereit war, als zwei Jahre zuvor Sherif Habid, der Clubpräsident der Arab Constractors in Kairo dem FCB-Sportchef Georg Heitz beschied: «Wenn Sie einen Rolls-Royce haben wollen, dann müssen Sie auch den Preis für einen Rolls-Royce bezahlen.»
Unter José Mourinho fasst Salah bei Chelsea nur schwer Fuss. Ein Jahr später wird er erst an die Fiorentina, dann zur AS Roma ausgeliehen. Dort macht er den Knopf endgültig auf und wird von Chelsea an die Römer abgegeben. Summa summarum sollen 20 Millionen Euro geflossen sein. Ein Jahr später sind es dann schon 42 Millionen Euro, für die der Liverpool FC den Spieler übernimmt. Damit schliesst sich ein Kreis, denn die «Reds» waren schon zu Salahs Basler Zeit hartnäckig und nahe an einer Verpflichtung dran, ehe sie von Chelsea ausgestochen wurden.
War dieser Werdegang abzusehen? Alex Frei sagt:
«Nein, damals konnte man das noch nicht in dieser Form vorhersehen. Ich habe ihm zugetraut, dass er eine gute Karriere macht, dass er sein Potenzial ausschöpfen wird. Das einschneidende Erlebnis für ihn waren Florenz (Trainer damals: Vincenzo Montella, zuletzt in Sevilla tätig) und Rom (zuerst unter Rudi Garcia, heute Olympique Marseille, anschliessend unter Luciano Spalletti, heute Inter Mailand; Anm. d. Red.).
Das hat ihm gutgetan und ihn auf ein anderes Niveau gebracht. Weil Italien immer noch das Land ist, wo Taktik am ausgeprägtesten eine Rolle spielt. Dort hat er in seinem Spiel eine Struktur bekommen, vor allem im Defensivverhalten. Und dann kam sein Wechsel zu Liverpool und Jürgen Klopp. Für diesen Fussball ist Mo prädestiniert.
Aus Trainersicht finde ich es allerdings nicht ganz okay, dass man nun alles auf die Offensive um Roberto Firmino, Sadio Mané und eben Salah reduziert. Gordon Henderson zum Beispiel macht wahnsinnig viel für die Mannschaft, oder James Milner. Die halten das Ganze im Gleichgewicht.»
Der «König von Anfield» ist jedoch Mohamed Salah. Die Fans liegen dem 25-Jährigen zu Füssen, nicht nur in Liverpool. Er ist zum aufregendsten Spieler der Gegenwart emporgeschossen. Seine Zahlen im zurückliegenden Jahr sind so atemberaubend wie sein Spiel: 44 Tore hat er in 51 Wettbewerbsspielen erzielt, zehn davon in der Champions League und 16 weitere Treffer hat er vorbereitet. Das ist eine phänomenale Quote. Und Salah grinst dazu spitzbübisch.
— Mohamed Salah (@MoSalah) 20. Mai 2018
Schon wird spekuliert, dass Salahs nächster Verein der Gegner vom Samstag im Champions-League-Finale sein wird. Den aktuellen Marktwert taxiert das «CIES Football Observatory» in Neuchâtel auf 168 Millionen, und dabei fliessen auch Salahs über 28 Millionen Follower und Freunde bei Instagram, Facebook und Twitter ein.
Hat Mohamed Salah mit all diesen Ingredienzien bereits die höchste Stufe erreicht? Alex Frei relativiert:
«Achtung, was heisst das? Bei Mo ist es jetzt eine Geschichte von Selbstvertrauen und vom sogenannten Lauf. Cristiano Ronaldo hält jetzt seit über zehn Jahren das hohe Niveau und trifft mit links und rechts und mit dem Kopf. Das ist dann noch einmal eine andere Liga.
Natürlich ist Mohamed Salah auf dem Weg zur absoluten Topstufe von Spielern, von denen es nur wenige gibt und gab auf dieser Welt. Zinedine Zidane hat die perfekte Stufe erreicht. Er hat alles gewonnen, ist bescheiden und demütig geblieben. Manchmal ist er ausgetickt, okay. Aber an ihm konnten sich Mannschaften aufrichten, immer wieder, egal, wo er gespielt hat. Oder Diego Maradona. Aber dazu braucht es Konstanz. Das ist dann der nächste Schritt.»
Sagt Alex Frei, der heute, mit bald 39 Jahren, Verwaltungsrat sowie Nachwuchstrainer beim FC Basel ist und kommende Woche mit den U18-Junioren im Playoff um die Schweizer Meisterschaft spielt. Und der in einem Gespräch Sachen sagt wie: «Ich habe mich während meiner Karriere immer gut mit den Torhütern verstanden. Weil wir beide in derselben Situation sind: Du bist entweder Held oder Depp.»
Der Champions-League-Final Real Madrid–Liverpool FC findet am Samstag, 26. Mai, in Kiew statt (20.45 Uhr MESZ, live bei SRF2).