In unseren Breitengraden nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu Ende gegangen: der World Cup im Cricket. Dabei versetzt Australiens Team ein Land in eine gelb eingefärbte Ekstase.
Cricket, das alte Spiel des Commonwealth, gilt bei uns als schwer langweilig, zumindest übermässig langatmig. Es dauert auch lange: die kürzere Version, wie jetzt beim World Cup gespielt, etwa acht Stunden. Die längere heisst Five-Day-Match und endet, dank der schrulligen Regeln, oft unentschieden. Cricket scheint ein Therapeutikum wider das hektische Dasein.
Scheint. In Wahrheit kann Cricket ganz schön mitreissend sein. Das Grundprinzip: Erst wirft das eine Team maximal 300 Bälle auf das 71 mal 23 Zentimeter kleine gegnerische Hölzchen-Tor («Wicket»), das von einem Batsman mit dicker Keule verteidigt wird. Dieser muss gleichzeitig versuchen, den Hartlederball möglichst oft und möglichst geschickt und auch möglichst weit wegzudreschen. Dann gibt es «runs».
Aber wehe, der Ball wird aus der Luft gefangen; dann ist der Schläger raus – genauso, wenn sein «wicket» getroffen wird. Dann kommt ein neuer Batsman. Zehn hat jedes Team – sind alle Schläger raus oder die 300 Bälle gespielt, dann gibt es ein Ergebnis für Team 1, etwa die sehr mässigen 183, die Neuseeland als erstes Batting team im Finale schaffte. Danach geht es andersherum.
Cricket, heisst es, sei wie ein guter Roman
Wenn man die Regeln mit samt ihren zahllosen Verästelungen und die vielen Statistiken erst einmal zu durchschauen begonnen hat, öffnen sich neue Horizonte. Dahinter nämlich liegen tückische Taktiken und raffinierte Strategien versteckt. Man weiss nie, ob der Batsman jetzt auf Sicherheit verteidigt oder alles wagt. Besonders zum Ende hin wird es oft wild.
Ein Versuch, Cricket näher zu bringen:
» Mehr zum Cricket – die Einführung bei wikipedia
» Der World Cup 2015 in Fakten und Zahlen
Cricket, heisst es, sei wie ein guter Roman: kompliziert im Aufbau, vertrackt in der Handlung, prickelnd und manchmal überraschend in der Auflösung. Der Fussballbegriff Hattrick hat übrigens im Cricket seinen Ursprung: Ein Spieler, der das Wicket drei mal in einem Spiel abschoss, erhielt früher einen Hut.
Eine Milliarde Menschen vor den TV-Geräten
Der World Cup gehört heute zu den Top-Five-Sportereignissen der Welt. Der riesige Melbourne Cricket Ground, gefüllt mit 93’000 Zuschauern, dazu der gute alte Commonwealth (ein Viertel der Weltbevölkerung) vereint vor dem Fernseher. Beim Vorrundenspiel Indien-Pakistan sollen laut BBC-Schätzungen eine Milliarde Menschen live dabei gewesen sein – kaum weniger als beim Endspiel der Fussball-Weltmeisterschaft.
Im Halbfinale zerlegten die Australier Titelverteidiger Indien mit Superstar Virat Kohli haushoch, Afghanistan (ja, die können das auch) schaffte seinen ersten WM-Sieg (gegen Schottland). Der Cricket-Erfinder England – der den seit 1975 ausgetragenen World Cup noch nie gewinnen konnte – strich in der Vorrunde mit vier Niederlagen die Segel, zuletzt blamiert von Bangladesh. Deutschland war auch beteiligt – mit Sponsor SAP und deren Statistiksoftware.
Gut gegen Böse – ein Traum-Finale
Es war das Traumfinale der Co-Gastgeber. Gut gegen Böse – eine neuseeländische Zeitung baute Parallelen zu Star Wars auf: Die neuseeländischen Rebellen um Captain Brendon McCullum alias Han Solo gegen das gastgebende Imperium unter Kontrolle von Captain Michael Clarke alias Darth Vader.
Australien, vierfacher Titelträger, war klarer Wettfavorit, obwohl die titellosen Kiwis das Vorrundenspiel gegen den Erzrivalen hauchdünn gewonnen hatten.
Das Desaster nimmt seinen Lauf: Martin Guptill (blau) wird aus dem Endspiel gekegelt. (Bild: Reuters/HAMISH BLAIR)
Neuseeland schickte zu Beginn des Endspiels gleich die besten Batsmen aufs Feld. Doch Martin Guptill, der gegen die West Indies mit 237 runs einen neuen Worldcup-Rekord aufgestellt hatte, und Brendon McCullum waren schnell raus; dabei blieb Brendon-Han McSolo sogar ohne jeden run, ein Desaster.
Das «G», wie die Aussies ihr Stadion nennen, kochte. Dann wurde es besser. Und kaum richtig gut, gingen drei Kiwi-Batsmen binnen weniger Minuten nacheinander. Bum, Bum, Bum. Der Verlierer-Hattrick. Australien, das lobten alle, hat einfach unfassbar aggressive, unberechenbare Powerwerfer.
Ein ekstatisches Oval in gelb
Halbzeit 2 – die Gastgeber sammelten Einzelruns, defensiv darauf bedacht, bloss keine Batsmen zu verlieren. Der neuseeländische Werfer Daniel Vettori, eine Erscheinung wie ein vollbärtiger Harry Potter, humpelte sogar – und nichts lief mehr. Cricket näherte sich seinem langweiligen Status.
Nach dem extrem vorzeitigen Ende mit dem 184. Run (101 Würfe waren übrig, also über ein Drittel) öffneten die Aussie-Fans voller Enthusiasmus die letzten Foster’s- Vorräte, Mitchell Johnson und James Faulkner liessen sich für ihre Final-Hattricks feiern. Melbourne, ein ekstatisches Oval in gelb. «I am over the moon», sagte Captain Darth Wader freudetrunken.
Der Trost: Bald gibt es die Rugby-WM
Australien war zu überlegen, um ein spannenderes Finale zuzulassen. Den neuseeländischen Sportfans bleibt immerhin, sich nach diesem enttäuschenden Endspiel auf die anstehende Saison im Rugby freuen. Das können sie als amtierender Weltmeister deutlich besser. Ab 18. September ist WM in England.