Alles war verriegelt im brasilianischen Paradies. Nichts gab es zu sehen unter den Palmen an der russischen Schwarzmeerküste. Nicht mal die Viertelstunde öffentliches Training, die den Journalisten normalerweise vorgesetzt wird. Vor dem Spiel gegen die Schweiz herrschte volle Konzentration auf den Job. Kein Blick für Dritte auf die letzte Arbeitseinheit, keine Pressekonferenz, kein Wort nach aussen, noch nicht mal vom dritten Torwart.
All das gehört zu diesem neuen Brasilien, das bei dieser Weltmeisterschaft als Favorit gilt. Früher wäre das undenkbar gewesen, früher produzierte Brasilien auch abseits des Platzes die Schlagzeilen.
Die neue Sachlichkeit
Unvergessen der «Karneval in Weggis» am Vierwaldstättersee, als die Seleção vor eigens aufgebauten Tribünen das Publikum mit Showfussball unterhielt, ohne nur einen Gedanken an die anstehende WM 2006 zu verschwenden. Unvergessen natürlich auch und vor allem die WM 2014, als die Mannschaft von Luiz Felipe Scolari das Heimturnier als patriotisches Melodram inszenierte, das sich dann aber mit einer der denkwürdigsten Abreibungen der Fussballgeschichte in ein Schmierenstück verwandelte.
Im brasilianischen Alltag hat sich die schmerzhafte Niederlage derart tief eingebrannt, dass man heute «Tor für Deutschland» sagt, wenn etwa ein Brot mit der falschen Seite auf dem Boden landet. Oder einfach nur «1:7», wenn der Tag richtig mies war.
Mit ihm wäre das so nicht passiert, sagt der damals verletzte Superstar Neymar heute. Doch ansonsten kommen selbst von ihm keine Sprüche. Keine peinlichen Instagram-Posts, keine aufregenden Wechselflirts – wie auch von der restlichen Mannschaft nicht.
Die Familien der brasilianischen Spieler durften ans Teamquartier mitreisen. Sie durften ein benachbartes Hotel beziehen. Und an freien Tagen, das war noch die klatschträchtigste Nachricht, ist sogar Sex erlaubt. Dafür dürfen Mobiltelefone nicht mit ins Bett. Denn das sorgt für besseren Schlaf und somit für bessere Erholung, das hat Nationaltrainer Tite von einem Schlafexperten übernommen.
21-mal ging Brasilien unter Tite auf den Platz, 17-mal verliess es ihn als Sieger.
Was Tite sagt, ist Gesetz bei den Brasilianern. Kein Wunder. Als der 57-Jährige im Sommer 2016 kam, deutete wenig bis gar nichts darauf hin, dass sich die Dinge seit 2014 entscheidend verbessert hätten. Brasilien lag in der WM-Qualifikation auf Platz sechs und hatte zwei Südamerikameisterschaften am Stück vermasselt. Die zweite kostete den auf Scolari gefolgten Carlos Dunga in seiner zweiten Amtszeit den Job.
Tites erste Amtshandlung war dann eine Absage. Er übernahm nicht die Olympiaauswahl, wie sonst in Brasilien üblich, sondern überliess sie für die anstehenden Heimspiele von Rio de Janeiro dem Nachwuchs-Coach Rogério Micale – wenn auch in enger Zusammenarbeit.
Es folgte Exorzismus, Teil eins: Im Elfmeterschiessen verwandelte Neymar den entscheidenden Strafstoss. Wer die Ekstase danach im Estadio Maracanã miterlebt hat, wird sie nie mehr vergessen. Es war Brasiliens erster Olympiasieg. Im Finale gegen Deutschland, den Peiniger von 2014.
Exorzismus, Teil zwei, erledigte Tite dann selbst: in der WM-Qualifikation. Brasilien gewann gleich die ersten neun Spiele. Eine Serie, wie es sie selbst in der ruhmreichen Geschichte des fünfmaligen Weltmeisters noch nie gegeben hatte.
Aus einem Wackelkandidaten ist die Mannschaft geworden, die sich als erste für diese WM qualifizierte. Und mit dem Siegen hat sie seitdem eigentlich nicht mehr aufgehört. 21-mal ging Brasilien unter Tite auf den Platz, 17-mal verliess es ihn als Sieger, inklusive der Testspiele dieses Jahres. In Russland wars ein 3:0, in Deutschland – Teilexorzismus – ein 1:0. Und nun auch in der unmittelbaren WM-Vorbereitung gegen Kroatien siegte Brasilien 2:0 in England sowie bei den Österreichern 3:0.
Das Tite-Update
Die neue Sachlichkeit, sie zeigt sich auch im Spielstil. Dieses Brasilien wird nicht nervös, wenn es mal länger 0:0 steht. Es spielt sich scheinbar behäbig den Ball hin und her, um dann bei jeder Chance auf eine Überzahlsituation sofort umzuschalten. Meistens zu schnell für die Gegner. Und wenn man erst mal in Führung liegt, wenn der Gegner aufmachen muss und Räume entstehen, dann wurde noch fast jeder ausgekontert.
Es ist Pragmatismus mit ausgewählten Momenten der Brillanz, wie sie bei Neymars spektakulären Toren gegen Kroatien und Österreich zu sehen war – eine Mischung aus Organisation und individuellem Talent. Und wenn Brasilien diese auf den Platz bekommt, dann war es in seiner Geschichte nur sehr selten zu schlagen.
Tite hat dafür weniger gezaubert, als vielmehr den veralteten Fussball Scolaris und Dungas durch die zeitgenössischen Updates aus Europa ersetzt, wie etwa das koordinierte Pressing der ganzen Mannschaft. Seine Gegenwärtigkeit zeigte er nicht nur, als er mit Corinthians aus São Paulo als letztes südamerikanisches Team 2012 die Klub-WM gewann. Sondern auch als er während eines Sabbaticals aus nächster Nähe Anschauung gewann bei Trainern wie Carlo Ancelotti oder Jürgen Klopp.
Der Nationalelf hat er eine klare Identität gegeben. Sie hat System genug, um kaum Gegentore zuzulassen, immer kompakt zu bleiben und in sauberem Passspiel aufzubauen. Und doch lässt sie einem wie Neymar auch die nötigen Freiheiten. Gleichzeitig hat sich das Team von seiner Überfigur emanzipiert. Die Siege in Russland und Deutschland gelangen ohne den Paris-SG-Profi, der nach seiner Fussverletzung wie nach gewünschtem Fahrplan genau zur WM in bester Verfassung scheint.
Für die Kunst sind neben Neymar noch Philippe Coutinho (Barcelona) und Gabriel Jesus (City) verantwortlich.
So sicher ist sich Tite seiner Sache, dass er praktisch immer dieselbe Elf ins Rennen schickt. Im Tor steht Alisson Becker von AS Rom, einer der Saisonaufsteiger, der mit einem halben Dutzend Grossklubs in Verbindung gebracht wird. In der Innenverteidigung wählt der Coach aus dem Trio Marquinhos (PSG), João Miranda (Inter Mailand) und Altmeister Thiago Silva (PSG). Über links verteidigt Marcelo gewissenhafter als bei Real Madrid, derweil der gleichfalls offensivlastige Dani Alves verletzt ausfällt – ein Verlust nach vorn, aber nicht nach hinten, wo ihn Danilo (Manchester City) solide ersetzt. Casemiro (Real) und Paulinho (Barcelona) erledigen im Mittelfeld alles fürs Grobe, gerade Letzterer ist bei seinen Vorstössen auch extrem torgefährlich.
Für die Kunst wiederum sind neben Neymar noch Philippe Coutinho (Barcelona) und Gabriel Jesus (City) verantwortlich. Tites einzige Variation war bis zuletzt die Frage, ob er ihnen mit Willian (Chelsea) einen weiteren Halbstürmer zur Seite stellt und Coutinho dafür etwas weiter zurück ins Mittelfeld zieht; oder ob er den mannschaftsdienlichen Renato Augusto (Beijing Guoan) als Scharnier aufbietet.
Ein Traum-Mittelfeld
Tief drin aber, das hat Tite mal verraten, würde er es am liebsten mit «Falcão, Socrates, Cerezo, Zico» versuchen – dem legendären Mittelfeld von 1982. «Sie spielten fast ohne nachzudenken. Ich sehe dieses Team, und ich denke: Was für eine wunderschöne Sache ist der Fussball.»
Aber Tite weiss selbstverständlich auch, wie die Sache damals ausging. Die Mannschaft von 1982 starb in Schönheit. Und das soll der Equipe von 2018 natürlich nicht passieren.