RB Leipzig grüsst von der Tabellenspitze. Der Aufsteiger ist punktgleich mit dem FC Bayern. Der Erfolg sei aber gar nicht wirklich das Ziel, verrät Torhüter Fabio Coltorti, sondern ein schöner Nebeneffekt der Philosophie. Nicht der einzige Einblick, den der Schweizer im Interview gewährt.
Die Bundesliga steht kopf. RB Leipzig grüsst von der Spitze: 7 Siege, 3 Unentschieden und keine einzige Niederlage. Selbst jetzt, wo die gesamte Liga vom Team als Bayern-Jäger Nummer 1 spricht, bleibt der Aufsteiger cool und gewann am Sonntag souverän 3:1 gegen den FSV Mainz 05. Dass das kein Zufall ist, lässt sich im Gespärch mit Fabio Coltorti erahnen.
Der Schweizer sitzt seit dem Aufstieg zwar nur noch auf der Bank, aber er ist länger dabei als (fast) alle anderen im Kader. In die Geschichtsbücher hat er sich allerdings nicht deshalb geschrieben, sondern mit seinen Offensivqualitäten – obwohl er nur ein Tor geschossen hat.
Fabio Coltorti, fast jedes Fussballspiel erzählt auch eine Geschichte. Sie haben eine ganz spezielle mit Darmstadt 98.
Darmstadt und RB sind alte Vertraute, wie Wegbegleiter. Vier Mal haben wir gegeneinander in der Vergangenheit gespielt, zwei Mal in der 3. Liga, zwei Mal in der 2. Liga. Darmstadt war immer unser Hauptkonkurrent um den Aufstieg. Aber Sie meinen wohl mein Tor.
Das erste und einzige Pflichtspieltor Ihrer Karriere. Und ein Treffer für die Geschichtsbücher der Bundesliga. Nie zuvor hat ein Torhüter der 1. oder 2. Liga das Siegtor erzielt.
Ich will es so hoch gar nicht hängen. Aber speziell war das Spiel schon, stimmt. Wir mussten gewinnen, um unsere Aufstiegschancen zu wahren. Der grösste Konkurrent kommt ins Stadion, das Haus ist ausverkauft, es steht 1:1, es läuft bereits die Nachspielzeit. Ecke für RB – und dann stehst du da, wo du eigentlich nicht hingehörst, und der Ball fällt dir auf den Fuss. Du machst das Tor, Abpfiff, 2:1 gewonnen. Okay, sagen wir, das war schon ein Glücksmoment in meiner Karriere.
Apropos: Wie ist das im Moment mit RB Leipzig und dem Glück?
(lacht) Wir haben keinen einzigen Punkt geklaut, sondern uns jeden einzelnen verdient. Aber wer den Fussball kennt, der weiss, dass es viele Momente im Spiel gibt, in denen eine Partie auf die eine oder die andere Seite fallen kann. Wir haben uns einen guten Flow erarbeitet, bei dem die Spiele sich häufig in unsere Richtung entwickeln.
Sie haben Matchglück?
Nein nicht ganz. Eher den verdienten Lohn. Man kann sich in einem Spiel das Glück erarbeiten, es erzwingen, so dass es zu einem fällt.
Wie das?
Man muss vorbereitet sein, wenn der Augenblick kommt, in dem sich eine Partie entscheidet. Wenn du maximal bereit bist, wenn die Fitness stimmt, wenn du das Spiel gut analysiert hast, wenn du strategisch und taktisch eingestellt und mental voll da bist, dann kann man es schon beeinflussen, dass die Dinge sich für dich und gegen den Kontrahenten entwickeln.
Was, wenn eine Partie trotzdem in die andere Richtung kippt?
Dann ist das so. Natürlich werden auch Zeiten kommen, in denen es nicht so gut läuft. RB wird irgendwann auch verlieren. Doch was sagt das dann aus? Wenn wir wissen, dass wir alles getan haben, um ein Spiel zu gewinnen, dann ist es okay. Aber was sollen wir jetzt darüber nachdenken. Momentan läuft es gut, und jetzt geht es darum, diesen Flow durch positive Energie zu erhalten. Wir müssen uns nicht dafür entschuldigen, dass wir gerade kein Spiel verlieren. Und wir vergessen nicht, dass dieser Lauf keine Selbstverständlichkeit ist.
Mit dem Erfolg wächst die Erwartungshaltung. RB steht punktleich mit den Bayern an der Tabellenspitze, gilt momentan als Bayern-Jäger Nummer eins und die Champions-League-Qualifikation vielen Experten als reale Option. Was macht das mit einem Liga-Neuling? 90 Prozent der RB-Spieler haben keine Erstliga-Erfahrung.
Das macht gar nichts mit uns. Dass wir auf die Tabelle schauen und sie auch lesen können, steht ausser Frage. Aber je mehr du dich damit beschäftigst, desto grösser wird die Gefahr, dass du dich ablenkst. Und das ist alles andere als hilfreich.
RB Leipzig eilt von Sieg zu Sieg – «das ist aber nicht das eigentliche Ziel, sondern ein Effekt», sagt Coltorti: «Wenn du an deine Grenzen gehst, wenn du immer besser werden willst, dann kommen die Ergebnisse automatisch.» (Bild: imago sportfotodienst)
Diese Gefahr besteht nicht?
Nein.
Schwer zu glauben.
Es heisst immer, RB sei der etwas andere Aufsteiger. Viele meinen damit die finanziellen Möglichkeiten, die RB hat. Aber das ist es nicht. Nicht allein jedenfalls. Was uns vielleicht ein wenig anders macht, ist, dass der Erfolg nicht das primäre Ziel ist. Das war schon so in der 2. Liga. Wir haben nie gesagt, uns geht es allein darum aufzusteigen.
Nicht?
Klar, wollten wir aufsteigen. Aber der Unterschied findet sich im Fokus. Was ist das Ziel? Der Sieg? Oder an seine Grenzen zu gehen? Wenn du an deine Grenzen gehst, wenn du immer besser werden willst, dann kommen die Ergebnisse automatisch. Dann ist das aber nicht das eigentliche Ziel, sondern ein Effekt. Und das unterscheidet uns vielleicht von anderen Mannschaften. Bei RB steht das Wachsen, das Besserwerden im Mittelpunkt. In allen denkbaren Facetten.
RB wird nicht müde zu beteuern, dass die Tabelle nur eine Momentaufnahme sei. Nicht von Bedeutung. Vielerorts heisst es, der Verein betreibe Understatement.
Man muss RB von innen her kennen. Wenn man das tut, dann versteht man, dass das keine Phrasen sind. Der Verein meint und lebt das tatsächlich so.
Gewähren Sie uns einen Einblick.
Es gibt drei Faktoren, die diesen Klub bestimmen. Der eine ist das Leistungsprinzip, der andere das Familiäre, der dritte die Exzellenz der Bedingungen. Ich bin noch nie bei einem Klub gewesen, bei dem so akribisch gearbeitet wird. In allen Bereichen, physisch, mental, ernährungstechnisch, was die Spielvorbereitung oder die Analyse betrifft. Das ist die Grundlage für den Leistungsfaktor. Ein Grossteil der Spieler, die zu RB kommen, ist nicht älter als 24. Das heisst, sie haben ihren Zenit noch nicht erreicht. Jeder, der also bei uns ist, will seinem Zenit näher kommen. Das ist das Hauptprinzip unserer Arbeit. Ja, es gibt ein Tagesgeschäft – Spiele, Punkte, Tabellen. Aber der eigentliche Sinn besteht darin, sich immer weiter zu verbessern. Und wenn du nicht ans Limit gehst, dann bist du schnell raus aus der Startelf. So bleibt das Niveau extrem hoch.
«Und nur so gibt es tatsächlich einen enormen Zusammenhalt. Glauben Sie mir, wir machen auch in der Freizeit viel zusammen.»
Schwer vorstellbar, dass der Konkurrenzkampf keinen Zwist erzeugt.
Tut er nicht. Klar gibt es bei dem einzelnen situativ auch mal Unmut, niemand sitzt gern auf der Bank. Aber über allem steht der Erfolg der Mannschaft. Alle, die zu RB kommen, sind darauf vorbereitet. Eben auch auf das Familiäre im Klub. Jeder hat die gleichen Chancen, aber in der Gemeinschaft. In bin jetzt schon über vier Jahre hier, und immer ist es so gewesen: An der Familie wird nicht gerüttelt. Und nur so gibt es tatsächlich einen enormen Zusammenhalt. Glauben Sie mir, wir machen auch in der Freizeit viel zusammen.
Viele Spieler sind fast 20 Jahre jünger als Sie.
(lacht) Gut, ich mache vielleicht eher was mit den Menschen vom Staff.
Was ist mit dem Recht auf Unmut?
Das macht dir niemand streitig. Aber was bringt es dir? Der Unmut zieht dich nur runter. Hab Vertrauen. Unterstütze, was gerade der Fall ist, und warte auf deine Chance. Jeder weiss, im Fussball kommt die häufig schneller als man denkt. Tatsächlich funktioniert das bei RB. So unglaublich das vielleicht klingen mag, aber der Spirit in der Mannschaft ist immer so, dass die Gruppe zählt, und der Einzelne immer bereit ist, da zu sein, wenn er gebraucht wird.
Sie sind 2012 zu einem Klub gewechselt, der zu diesem Zeitpunkt erst drei Jahre alt war. Sie spielten 4. Liga, 3. Liga, 2. Liga und sind nochmals aufgestiegen. Die meiste Zeit standen Sie im Tor – jetzt sitzen Sie auf der Bank.
Und im ersten Spiel der Vereinsgeschichte in der 1. Liga war ich nicht mal im Kader – als Einziger. Weil wir so viele Ausfälle hatten, waren alle anderen mit dabei. Was macht man da?
Man dreht durch?
(lacht) Vor zehn Jahren hätte mich das angefressen. Warum? Bin ich schlecht? Das ist ungerecht! Ich bin doch viel besser! Aber ich habe mich in den letzten Jahren auch persönlich entwickelt. Jetzt bin ich 35 – und das Ende kommt näher. Also was sollte mich das grämen? Als Ralph Hasenhüttl mir gesagt hat, dass Peter Gulacsi Stammtorhüter sein wird, war das hart, aber auch okay für mich. Ich habe zu ihm gesagt: «Wenn du mich brauchst, werde ich bereit sein. Und wenn es mitten in der Nacht ist.» Der Fussball kann mir nichts mehr nehmen. Er kann mir nur noch geben.
Was hat Sie vor vier Jahren bewogen, zu RB Leipzig zu gehen?
Die Antwort lag in der Frage: Wann bekommst du noch mal die Chance, mit einem Klub mitzuwachsen?
Auch wenn das hiess: 4. Liga, Feld, Acker, Dorf?
Ich wollte noch einmal irgendwo Topliga spielen. Und in die Bundesliga aufzusteigen, war schon eine sehr reizvolle Aufgabe.
Dafür mussten Sie in Kauf nehmen, einen Teil des Tages in Containern zu verbringen.
(lacht) Man macht sich falsche Vorstellungen davon. Erstens kannte ich Container auch schon aus meiner Zeit aus Schaffhausen. Und zweitens: Wir hatten alles. Wir hatten genügend Platz, es gab Duschen, es gab einen Whirlpool, Sauna, Physio. Die Trainingsplätze waren in perfektem Zustand. Und es hat uns zusammengebracht. Wir hatten in den Containern Bierbänke stehen, auf denen haben wir drei Jahre lang zusammen gefrühstückt und Mittag gegessen.
Gab es jemals den Moment, wo Sie dachten: Ich steig jetzt besser aus?
Wenn überhaupt, dann vielleicht im ersten Jahr. Die Grenze zwischen dem deutschen Amateurbereich und der dritten, also der untersten Profiliga, funktioniert wie ein Nadelöhr. Du gewinnst deine Staffel, musst aber in zwei Ausscheidungsspiele. Wir mussten gegen die Sportfreunde Lotte ran. Und ich hatte keine Lust auf noch mal 4. Liga. Die Auswärtsspiele waren schon ein wenig grenzwertig. Ich war immerhin zehn Jahre lang kein schlechter Torhüter gewesen, ich war Nationalspieler, ich habe in Spanien gespielt. Und dann Lotte. Wir hatten das Hinspiel 2:0 gewonnen. Im Rückspiel kriegen wir in der 95. Minute das 0:2. Also Verlängerung – auswärts. 30 Minuten später stand es 2:2.
Ihr Vertrag läuft noch ein Jahr. Ist es denkbar, dass Sie Ihre Zeit bei RB Leipzig beenden, ohne jemals Ihr Ziel erreicht zu haben? 1. Liga zu spielen?
Das wird nicht der Fall sein.
Sagt das Schicksal? Oder der Trainer?
(lacht) Sagt mir mein Gefühl. Und das hat mich selten getäuscht. Aber auch das wird nicht lebensentscheidend sein. Ich brauche keine Visitenkarte, wo draufsteht, was ich alles gewonnen oder getan habe. Ich habe gelernt, dass im Leben viele andere Dinge wichtig sind.
Welche sind das?
Erfahrungen, die ich gemacht habe. Was ich erlebt habe. Und die Menschen, die ich getroffen habe. Das Beste kommt ja noch: ein Leben nach dem Fussball. Und da ich weiss, was ich machen werde, ist der Fussball jetzt nur noch da, um zu lernen und Erfahrungen zu sammeln. Wenn ich jetzt zum Beispiel zu einem jungen Spieler, der gerade auf der Bank sitzt, sage, hör mal, ich verstehe dich, aber bleib ruhig und vor allem positiv, deine Zeit wird kommen, dann weiss der: Okay, der Coltorti hat Ahnung. Der weiss, wovon er spricht.
Wie wahrscheinlich ist ein neuer Vertrag.
Wenn ich im Sommer sage, ich fühle mich noch fit, und der Verein sagt, das freut uns, dann hängen wir noch ein Jahr dran. Und wenn nicht, dann ist es auch okay. Was kommt, wird schon richtig sein.
An was werden Sie sich erinnern, wenn Sie RB Leipzig als ein Spieler verlassen, der länger dabei gewesen ist als jeder andere? Abgesehen von Kapitän Dominik Kaiser.
Ich bin sehr emotional mit dem Verein und der Stadt verbunden. Hier steckt ein Grossteil meines Wesens drin. Dafür habe ich in Kauf genommen, dass meine Frau und meine Tochter in Spanien leben und wir uns nicht so oft sehen. Und an was ich mich erinnern werde: Dass ich ein Teil davon gewesen bin, wie ein Klub entsteht und wächst. Und wie ich mit RB Leipzig mitgewachsen bin, vor allem als Mensch. Ich werde immer zu schätzen wissen, dass dieser Verein wie eine Familie funktioniert. Und dass ich von den Menschen, die mir hier begegnet sind, viel lernen durfte. Vor allem auf menschlicher Ebene. Trotz des täglichen Leistungsdrucks, der einen Profifussballverein nun mal bestimmt.
Die Reservistenrolle wird Fabio Coltorti nicht in Erinnergung bleiben, sehr wohl aber etwas anderes: «An was ich mich erinnern werde: Dass ich ein Teil davon gewesen bin, wie ein Klub entsteht und wächst.» (Bild: imago sportfotodienst)
Ist eine Rückkehr in Ihre Heimat eine Option?
Der Ort, an dem mein Leben nach dem Fussball beginnt, wird Marbella sein, wo meine Frau wohnt und meine Tochter zur Schule geht. Und sollten wir noch mal umziehen, dann dorthin, wo es warm ist.
Also nicht in die Schweiz?
(lacht) Nicht in die Schweiz.
Wie nah dran sind Sie noch an der Nationalmannschaft?
Es sind ganz wenige, die ich noch kenne. Ich habe noch ein bisschen Kontakt zu Stephan Lichtsteiner.
Verfolgen Sie die Spiele?
Die Spiele nicht. Wenn Länderspielpause ist, dann bin ich meistens in Spanien bei meiner Familie. Und generell schaue ich nicht so oft Fussball. Aber die Resultate kenne ich schon. Und die neun Punkte aus den ersten drei Spielen sind schon sehr gut.
Eine Meinung vom Fachmann über Fachleute: Welcher Schweizer Goalie gefällt Ihnen von seinen Anlagen am besten? Alle drei spielen immerhin in der Bundesliga – Sie sind nah dran.
(lacht) Sie gefallen mit natürlich alle drei.
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Hoffenheim und Leipzig in der Bundesliga: «Es ist schwer, die Plastikklubs doof zu finden» – eine lesenswerte Analyse in der «Süddeutschen Zeitung» zum Erfolg. Die Bundesliga-Tabelle im Überblick (Details gibts hier):