Nach mehreren Tiefpunkten in den vergangenen Monaten ist Real Madrid nur noch einen Match von seinem elften Champions-League-Titel entfernt. Das ist in erster Linie Zinédine Zidane zu verdanken, der für eine harmonische Arbeitsatmosphäre sorgt.
Das Publikum stand und schrie. Noch Minuten nach Abpfiff füllte es den Klangtempel Estadio Santiago Bernabéu mit seinen Gesängen. Unten auf dem Rasen bildeten Spieler und Betreuer von Real Madrid eine Kette und liefen in Richtung des Fanblocks. Auf halbem Weg machten sie kehrt, das Ritual gemeinsamen Feierns ist in Spanien nicht verbreitet, und noch ist ja nur das Finale erreicht. Wobei: Was heißt hier nur?
Vor ein paar Monaten musste die Regie im Bernabéu nach Abpfiff noch die Vereinshymne auf Düsenjägerlautstärke aufdrehen – um die Buhrufe des Publikums zu übertönen. Das 0:4 gegen den FC Barcelona bedeutete den sportlichen Tiefpunkt, zu dem sich vorher und nachher allerlei andere Malaisen gesellten: Transferpanne um Torwart de Gea, Pokalausschluss wegen eines Aufstellungsfehlers, Fifa-Sanktion wegen unerlaubter Anwerbung Minderjähriger. Real schien zu versinken in seinem Annus Horribilis. Jetzt ist es nur noch einen Match vom elften Champions-League-Titel entfernt. Wie beim zehnten geht es im Endspiel gegen Stadtrivale Atlético.
Wunderbar schmalzige neue Hymne
Toni Kroos kam zwei Monate nach jenem Triumph von Lissabon zum Verein. Bei seinem ersten Heimspiel wurde ein weiteres Musikstück in die Stadionliturgie aufgenommen, das eigens zu dem freudigen Anlass komponiert wurde. «El himno de la décima» zelebriert wunderbar schmalzig die besondere Liebesbeziehung Reals zum Europapokal:
Die Videosequenzen dazu zeigen ikonische Tore, beginnend mit dem Kopfball von Sergio Ramos, der Real vor zwei Jahren in letzter Minute in die Verlängerung brachte. Wer die Allgegenwärtigkeit des Fußballs in Spanien unterschätzt, mag keine Vorstellung davon haben, wie oft diese Szene über alle Kanäle flimmern wird, heroisiert und verflucht, je nach Couleur, in den gut drei Wochen bis zum Finale am 28. Mai in Mailand. Wenn dann auch Toni Kroos dabei sein wird.
«Man merkt den Enthusiasmus, allein wenn man sich die Stimmung im Stadion heute anschaut», sagte der Deutsche nach dem 1:0 über Manchester City (Hinspiel 0:0) in den Katakomben des Bernabéu. Schlagfertig vermied er ansonsten jeden Eindruck, auch er selbst könnte deshalb seine Gelassenheit verlieren.
«Die beste Liga»
Natürlich, er hat schon mit den Bayern die Champions League gewonnen, auch wenn er 2013 im Finale gegen Borussia Dortmund verletzt fehlte. Und Weltmeister ist er sowieso. Danach wechselte er nach Spanien, nicht die schlechteste Entscheidung angesichts der alle Jahre wieder im Europapokal demonstrierten Qualität des iberischen Fußballbetriebs. «Man kann schon sagen, dass es natürlich die beste Liga ist.»
Hätte er sich aus persönlichen Gründen lieber seine alten Bayern-Mitspieler als Gegner gewünscht? «Aus persönlichen Gründen bin ich gern im Finale. Gegen wen, ist mir eigentlich wurscht.»
Reals Weg dorthin war mit den Gegnern AS Rom, VfL Wolfsburg und zuletzt Manchester City nicht allzu steinig. Die Engländer verblüffen nach hunderten Millionen Euro Investitionen vor allem dadurch, weder athletisch noch mental auf Höhe des kontinentalen Spitzenfußballs zu agieren. Das Seniorentempo des übergewichtigen Yayá Touré im Mittelfeld verlieh ihrem Auftritt geradezu Slapstick-Charakter – wie auch die Einlassung des nicht minder trägen Trainers Manuel Pellegrini, allein das Glück habe entschieden.
Einmal gut durchgeschüttelt
Am liebsten hätte man die ganze Delegation einmal durchgeschüttelt und ihr eine Testosterontherapie bei Diego Simeone verschrieben. Wohl zu ihrem eigenen Glück bekommen sie im Sommer nur Pep Guardiola. Auf ihn wartet viel Arbeit.
Real reichte es jedenfalls, «sehr erwachsen» zu spielen, wie Kroos analysierte. Das einzige Tor erzielte Gareth Bale in der 20. Minute durch einen abgefälschten Schuss aus spitzem Winkel, ansonsten hätte es halt ein anderer zu einem anderen Zeitpunkt geschossen. City kam in beiden Spielen nur zu einer echten Torchance, einen Außenpfostenschuss von Fernando (40.). «Und das, obwohl uns oft vorgeworfen wird, dass wir nicht kollektiv verteidigen», so Kroos.
Reals Fußball lässt sich als kontrolliert offensiv beschreiben, seit Zinédine Zidane auf der Bank sitzt. Der Trainer hat, natürlich, als Hauptverantwortlicher von Reals erstaunlichem Turnaround in den letzten Wochen zu gelten, der aus zehn Punkten Rückstand in der Liga vor dem Erweckungserlebnis durch den Sieg im Rückspiel bei Barcelona (2:1) mittlerweile nur noch einen werden ließ.
Produktive Harmonie dank Zidane
Und aus einer deprimierten Mannschaft einen Kandidaten für das erste Double aus Meisterschaft und Europapokal des Vereins seit 1958 machte. Zidanes Leistung liegt dabei weniger in einer Fußballrevolution als darin, nach den Verwerfungen unter dem kontrollversessenen Vorgänger Rafael Benítez wieder eine harmonische, produktive Arbeitsatmosphäre geschaffen zu haben.
«Der Spaßfaktor hat sich schon erhöht, das muss man deutlich sagen», befindet Kroos. «Zizou macht einen Superjob, weil er uns seine Anforderungen sehr verständlich macht, und weil er uns absolut auf Augenhöhe begegnet. Das kommt bei einer Mannschaft immer gut an, und dann gibst du vielleicht noch mal zwei, drei Prozent, wenn du weißt, da steht einer an der Linie, für den du es gerne machst.»
Zidanes Volleytor sicherte Real vor 14 Jahren gegen Bayer Leverkusen die neunte Trophäe im Wettbewerb. Ramos’ Kopfball bereitete den Weg zur Zehnten. Jetzt lautete das Modewort bei Real Madrid «la undécima», die Elfte. «50 zu 50» bewertet Kroos die Chancen im Duell mit dem unbequemen Atlético, gegen das Real in der Liga seit drei Jahren nicht mehr gewinnen kann (zwei Remis, vier Niederlagen), das es aber in der Champions League letzte Saison besiegte. Und natürlich vor zwei Jahren.