All die Küsse und Tränen – mit den Telefonzellen am Barfi wird ein Stück Stadtgeschichte amputiert

Das Verschwinden der Telefonzellen radiert ein Stück Basler Stadtgeschichte aus. Ein nüchterner Abschied ist deshalb unangebracht.

Fünf Telefonkabinen stehen am Barfüsserplatz, zusammen bilden sie das bekannteste Hexagon der Stadt.

Unsensiblen Menschen ist sowas egal. Telefonzellen sterben, so what!? Niemand braucht die, keiner wird sie vermissen, weder am Barfi noch sonstwo, sagen sie. Aber das stimmt nicht.

Der von der Swisscom beschlossene Abbau der Telefonzellen bedeutet nicht weniger als die Amputation eines Stücks Erinnerungsgeschichte aus dem kollektiven Gedächtnis der Stadt Basel. Sie haben richtig gelesen: Amputation. Man sollte bei diesem Thema nicht sachlich bleiben müssen.

Irgendwann im Horrorwinter 2002. Die erste Freundin macht Schluss. Hinter den Telefonzellen am Barfi trifft man sich («wir müssen reden»), eine handgeschriebene Notiz wechselt die schwitzige Hand. «Ich hoffe, wir können gute Freunde bleiben.» Man steht dann in einer dieser Zellen und weint ein bisschen. Er war wirklich ein schlimmer Winter, der Winter 2002.

August 2005. Der erste Ausgang mit Freunden, ein bisschen Alkohol, ein bisschen Shisha, ein bisschen zu jung für die Clubs. Am Barfi wollte einer testen, wie viele von uns in eine Telefonzelle passen. Falls Sie das noch nicht wussten: 15 Teenagerleiber passen in die grosse Telefonzelle am Barfüsserplatz. Einer hat sich damals die Schulter ausgekugelt.

Mai 2006. Ein Freund verliert eine Wette und steht immerhin 35 Minuten in Unterhosen in dieser Zelle, bis die Polizei auftaucht und ihn nach Hause schickt. Der Freund hatte danach neun Tage lang hohes Fieber.

Der Abbau in Zahlen

«Bis Ende Mai 2019 sind sämtliche Publifone verschwunden», schreibt die «bz Basel» am 23. Oktober 2018. Ein paar Zahlen illustrieren den Niedergang: 2012 standen noch 263 sogenannte Publifone in Basel, heute sind es noch 136. Die kommen jetzt weg. Von 2004 bis 2016 ist die Zahl der Gespräche um 95 Prozent zurückgegangen.

Allein, mit Zahlenklauberei wird man der Causa Telefonzellenabbau nicht gerecht. Niemand sollte bei diesem Thema sachlich bleiben müssen.

24. Oktober 2018, 12:13 Uhr.  Eine junge Frau, Sabine, 17,  wartet auf ihre Freundin. Sie zeigt die Whatsapp-Nachricht auf ihrem Handy: «Hey, Treffen um viertel ab am Barfi, ok?» Da steht nicht: Treffen bei den Telefonzellen. Aber «am Barfi» ist immer «bei den Telefonzellen», sagt Sabine. Die Freundin kommt, es ist viertel nach.

24. Oktober 2018, 12:20 Uhr. «Ich hab hier mal gefühlte vier Stunden mit ’nem Girl geknutscht», sagt Ahmet, 22, Lehrling in der Mittagspause. Sein Kollege lacht. «Vier Stunden, Alter, erst waren wir in der Bronx und dann hab ich sie aufs Tram begleitet und dann haben wir hier rumgemacht, bis die Scheiben von innen beschlagen waren, ich schwörs dir, Alter.»

Immer wieder bemalt, immer wieder gereinigt, immer seltener zum Telefonieren benutzt. Dafür als Treffpunkt immer beliebt. Wir sagen: Telefonkabine bleibt!

Wegen der «Revision der Verordnung über Fernmeldedienste», die der Bundesrat 2016 verabschiedet hat, sind Publifone seit 2018 nicht mehr Teil der «Grundversorgung im Fernmeldebereich», welche die Swisscom sicherzustellen hat.

Was ebenfalls aus der Grundversorgung gestrichen wurde: «die Datenübertragung über Schmalband und die Telefaxverbindungen». Da stellt sich die Frage: Was ist Schmalband?

Was noch nie jemand fragte: Was ist eine Telefonzelle? Man erkennt Kulturgut auch an seiner Verankerung im aktiven Sprachgebrauch.

24. Oktober 2018, 12:40 Uhr. Seit mindestens einer Stunde hat niemand die Telefonzellen benutzt, in einer liegt Laub. In einer anderen ausgetretene Zigaretten, es riecht nach kaltem Rauch. In einer der Zellen hat jemand von innen mit Filzstift etwas auf Französisch an die Scheibe geschrieben. Es liest sich wie eine Erinnerung oder Kurzgeschichte, sie geht ungefähr so:

Ein offenbar weibliches Ich sagt zu einem Mann (ihrem Freund? Lover? Bruder?): «Wir sind doch nicht zu sechst». Er antwortet, sie solle trotzdem an diesen Ort gehen. Dort angekommen, ist die Kellnerin («la serveuse») überrumpelt. Man erwarte weitere Freunde, sagt die Ich-Erzählerin zur Kellnerin. Das sei ein Ordnung, kriegt sie zur Antwort. Aber fünf Minuten später wird sie zum Zahlen und Gehen aufgefordert.

«5 minutes après, ils me disent il faut payer maintenant…??»

Zugegeben, es ist keine besonders gute Geschichte, Plot und Figurenzeichnung lassen zu wünschen übrig. Aber sie steht nun mal da, über die gesamte Front der Zelle geschrieben. Telefonzellen-Prosa. Man kann die Geschichte nur von innen lesen.

24. Oktober 2018, 12:45 Uhr. Der Kioskverkäufer von gegenüber sagt, er habe gerade keine Telefonkarten zu verkaufen, es tue ihm Leid. Die seien immer noch sehr beliebt und er warte auf die nächste Lieferung. Die Karten mit fünf Franken Guthaben sind am beliebtesten.

24. Oktober 2018, 12:47 Uhr. Wieder hat sich ein Paar vor den Zellen verabredet, beide um die 40 Jahre alt. Sie sagt: «Früher wars bei uns so: Wenn die Telefonrechnung zu Hause höher als 50 Franken war, durfte ich nicht mehr mit dem Haustelefon telefonieren. Dann musste ich in die Zelle und Taschengeld einwerfen.» Und, haben Sie das getan? «Na klar! Telefonieren ist wichtig, gerade als Teenie!»

Umsatz dank «Erwachsenenunterhaltung»

Die Swisscom bekommt viele Medienanfragen zum Thema Telefonzellen-Schwund, sie hat darum eine Infografik erstellt. Ganz unten in der Grafik steht: «[Der] Umsatz der meist genutzten Kabine [errechnet sich] primär durch Erwachsenenunterhaltung». Das waren Anrufe auf sogenannte Sexnummern, heisst es auf Nachfrage. Wo diese Kabine steht, kann die Swisscom angeblich nicht eruieren, ausserdem sei mit dem Aufkommen des Internets bestimmt auch der Umsatz dieser Zelle zurückgegangen. Ob es die entsprechende Kabine überhaupt noch gibt, sei nicht klar.

Die «einsamste Telefonzelle der Schweiz» steht im Bündner Dorf Braggio im Calancatal, das hat der «Blick» 2016 recherchiert. Ihr Umsatz lag bei 1.40 Franken pro Jahr.

Die Swisscom führt eine Liste aller Publifone auf Stadtbasler Boden. Wer zum Beispiel die Telefonzelle beim Casino, Kab. 3 in 4051 Basel, Kabinenart «spezial» anrufen will, wählt dafür die Nummer 061-2615799. Falls Sie mal wieder telefonieren wollen.

Die Kulturjournalistin Naomi Gregoris hat für ein Radiofeature tagelang in 300 Schweizer Telefonzellen angerufen und versucht, jemanden zu erreichen. Fast niemand ging ran, das macht die zustande gekommenen Gespräche umso aufregender. Würden Sie den Hörer abheben, wenn es in einer wildfremden Telefonzelle klingelt?

Hollywood-Superstar Colin Farrell tat genau das, mitten in New York, grosses Kino. Er wäre ein Nobody geblieben, gäbe es keine Telefonzellen, aber der Thriller «Phone Booth» verhalf ihm zum Durchbruch. Der Plot: Das Telefon in einer Kabine am Strassenrand klingelt, Farrell geht ran… Und Sie glauben nicht, was dann geschieht.

Der Film ist fast so gut wie dieser Cliffhanger.

Abschiedsveranstaltung? Bitte nicht

Zurück zum Barfi. Dort blicken die Telefonzellen nach 40 Jahren Existenz (Baujahr 1979) ihrem Ende entgegen. Es sei denn, sie würden unter Denkmalschutz gestellt. Zu den Kriterien für die Schutzwürdigkeit eines Baus im Kanton Basel-Stadt zählen immerhin «historische, sozial- oder ereignisgeschichtliche Faktoren».

Sämtliche dieser Kriterien müssen gemäss den Recherchen der TagesWoche als gegeben betrachtet werden.

Man denke an die zahllosen Treffen, die hier verabredet, die Küsse, die hier getauscht, die Beziehungen, die hier beendet, die Streiche, die hier gespielt, die Meistertitel, die auf dem stacheldrahtbewehrten Dach zelebriert und nicht zuletzt die Telefonate, die hier geführt wurden. Mehr historische, sozial- und ereignisgeschichtliche Bedeutung geht nicht.

Das hat auch das Netzwerk Kulturstadt Jetzt erkannt, es lädt bereits zur Abschiedsveranstaltung: «Aadie Delefoonkabine». Wir finden: Das muss doch nicht sein.

Denkmalpflege, übernehmen Sie!

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