«Arbeitszeit» ist ein Auslaufmodell

Die Arbeitstage meines Vaters, der in den 1970er-Jahren als Bauführer arbeitete, waren streng ge­regelt. Er arbeitete 44 Stunden pro Woche. Ausser freitags: Dann gab es eine Stunde früher Feierabend. Arbeits- und Überzeiten wurden minutengenau erfasst. Arbeit und Freizeit waren damals noch strikt getrennte Welten. Der Arbeitgeber wollte das so. Heute arbeiten die Berufs­kollegen mei­­nes Vaters zeitlich […]

Die Arbeitstage meines Vaters, der in den 1970er-Jahren als Bauführer arbeitete, waren streng ge­regelt. Er arbeitete 44 Stunden pro Woche. Ausser freitags: Dann gab es eine Stunde früher Feierabend. Arbeits- und Überzeiten wurden minutengenau erfasst. Arbeit und Freizeit waren damals noch strikt getrennte Welten. Der Arbeitgeber wollte das so.

Heute arbeiten die Berufs­kollegen mei­­nes Vaters zeitlich viel flexibler. Die wöchentliche Arbeitszeit kann laut dem Schweizerischen Baukaderverband bis zu 50 Stunden, aber auch weniger betragen. Denn die Arbeitszeiten variieren ­je nach Auftragslage.

Das gilt inzwischen für viele Berufe. Dank der digitalen Vernetzung kann zudem jederzeit und überall gearbeitet werden: Im Homeoffice vermischen sich Arbeit und Freizeit immer mehr. Die Befürworter dieses Trends preisen die Vorteile der «individualisierten Ar­beitszeit», dank der sich auch neue Freiräume für Freizeit und Familie eröffnen. Kri­ti­ker wiederum war­nen vor gesundheitlichen Gefahren: Wo der Überblick über die Arbeitszeit verloren gehe, sei die Work-Life-Balance gefährdet.

Die Entgrenzung von Arbeits- und Freizeit strapaziert aber auch das Arbeits­gesetz. Darin wird etwa festgelegt, dass Chefs die Arbeits­zeiten minutiös erfassen müssen – vom ­Ar­beitsbeginn über Pausen bis zum Feierabend. Eine Auflage, die in vielen Branchen nicht mehr erfüllt werden kann. Experten gehen davon aus, dass heute rund 30 Prozent der Werktätigen ohne Zeit­erfassung arbeiten. Im Dienstleistungssektor und bei den kreativen Berufen liegt diese Quote noch höher. Gesetz und Arbeits­realität driften immer mehr auseinander.

Lässt sich das veraltete Arbeitszeit-Konzept flexibler gestalten, ohne dass der Arbeitnehmerschutz leidet? Gibt es taugliche Modelle, die das Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis zeitge­mäs­ser definieren? Leider nicht, wie unsere Titelgeschichte zeigt (Seite 6). Zwar werden im Kampf um Talente künftig jene Firmen ge­win­nen, die ihre Mitarbeiter via faire Leistungsziele führen und ihnen weitgehende Sou­veränität über die eigene Arbeitszeit gewähren. Da aber der Sta­tus quo bequemer ist, setzen Behörden, Firmen und Verbände weiterhin auf das Auslaufmodell «Zeit gegen Geld».

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 27.01.12

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