Das Geschäft mit Tattoos läuft wie nie zuvor

Über 20 Tattoo-Shops gibt es in der Region – und es werden mehr. Ein Ende des Trends ist nicht absehbar.

Sirin Szabo hat bisher elf Tattoos – die meisten sind unter den Kleidern versteckt. (Bild: Nils Fisch)

Über 20 Tattoo-Shops gibt es in der Region – und es werden mehr. Ein Ende des Trends ist nicht absehbar.

Sie krempelt die Jeans hoch, zieht das Shirt am Bauch hoch und nachher am Nacken herunter, um zu zeigen, wo sie überall sind, die elf Tattoos, die sie sich in den vergangenen neun Jahren hat stechen lassen. Das neuste Bild – zwei Totenköpfe – entstand vor zwei Wochen und ist noch nicht ganz verheilt, über den «Outlines» der Köpfe verläuft eine Kruste. Nur, wer Sirin Szabo (27) sehr nah kommt oder sie im Bikini sieht, erhält einen Überblick über die bunten Fische, die lateinischen Sprüche und chinesischen Kunstwerke auf ihrem Körper.

Sie hat – bis auf die Handgelenke – vorwiegend Körperstellen gewählt, die meistens von Kleidern verdeckt sind. Bald ist an diesen Stellen kein Platz mehr und sie muss dem Tätowierer exponiertere Haut zur Verfügung stellen. Denn aufhören – das kommt für die Geschäftsführerin der Kleinbasler «8Bar» nicht in Frage. Dieses beinahe zwanghafte Weitermachen packt jeden, der mindestens schon dreimal auf dem Schragen lag, sagt Tätowierer Mario Perez (38). «Nach dem dritten Tattoo kann man nicht mehr aufhören», so seine Erfahrung.

Kostspielige Leidenschaft

Als Co-Geschäftsinhaber des grössten Basler Tattoo-Studios Fresh Up sieht er alle Variationen von Tattoowilligen. Neulinge, die mit dem Hochzeitsdatum auf dem Unterarm anfangen, «krasse Frauen», die untätowiert kommen und mit vollbemalten Armen im Maori-Stil gehen wollen – das aber kaum tun werden. Denn jeder sollte klein beginnen, rät Mario Perez. Er sieht Volltätowierte, die auf dem letzten freien Fleck einen Adler gestochen haben wollen.

Ablehnen muss er nicht nur jene Kunden, die sich das Gesicht tätowieren lassen wollen, minderjährig sind oder rassistische Motive wollen, sondern auch ganz normale Klienten. Es sind zu viele Menschen, die einen bunten Körper wollen. Und es werden ständig mehr. Ein Viertel der 20- bis 30-Jährigen ist bereits tätowiert.

Den Überblick über die Anzahl Studios hat kaum jemand, da keine Meldepflicht besteht. Selbst die Mitarbeiter des Kantonalen Laboratoriums müssen sich für ihre Kontrollen selbst auf die Suche machen und hoffen, dass sie möglichst viele Studios finden. Es gibt kleine Hinterhof-Ateliers, private Tätowierer – und Betriebe wie das Fresh Up. Über 20 solche finden sich im Internet für die Region Basel, allein in den vergangenen Wochen kamen in der Stadt vier neue dazu. Noch nie gab es so viele Studios wie jetzt. Das Geschäft läuft, «ein guter Tätowierer kann im Monat bis zu 10 000 Franken verdienen», sagt Mario Perez. Die Kunden müssen teilweise tief in die Tasche greifen. Schon ein kleines Tattoo kann ein paar Hundert Franken kosten.

Bunte Körper unter den Hemden

Ein Tätowierer sitzt teilweise 13 Stunden am Stück an einem Menschen. Hinzu kommt die Zeit für das Skizzenzeichnen und das permanente Desinfizieren der Arbeitsplätze. Auf die Qualität der Farben hingegen haben die Tätowierer oft keinen Einfluss. «Die Studios können sich nicht immer auf die Hersteller verlassen», hält das Kantonale Laboratorium in seinem jüngsten Bericht fest. Jede zweite Farbprobe wird beanstandet, zu oft würden genaue Angaben zu Pigmenten oder Konservierungsstoffen fehlen. Die Zahl der Tätowierten steigt trotz solcher Tests.

Ein Grund für die zunehmende Tätowierfreudigkeit liegt in der gesellschaftlichen Akzeptanz. Niemand wird mehr schräg angeschaut, weil eine Schwalbe auf seiner Schulter weilt oder ein Pin-up-Girl den Rücken ziert. Auch im Berufsleben stellen Tattoos keine grossen Hindernisse mehr dar. Ein Freund von Sirin Szabo ist ein «hohes Tier» in der Chemie – und am Oberkörper tätowiert. Tagsüber verdeckt ein Hemd die bunte Welt. Wenn er aber am Rhein sitzt, sind sie da, die Bilder. «Einmal kam einer seiner Mitarbeiter vorbei und konnte es kaum fassen», sagt Sirin Szabo. Das war es dann aber auch. Am nächsten Tag war der tätowierte Chef im Büro kein Thema mehr. Auch Silvie Morais von der Berufs- und Laufbahnberatung am Claraplatz stellt fest, dass Tattoos bei Arbeitgebern kaum mehr Thema sind: «Es ist kein No-Go mehr, ich rate meinen Kunden jedoch, ein langes Hemd anzuziehen für das Vorstellungsgespräch.»

Wichtig sei das ganze Auftreten, blaue Haare und Piercings im Gesicht seien je nach Job genauso wenig förderlich wie ein bemalter Körper. Da hat es Roger Degen (48) gut, dass er nie einen Bürojob mit Kundenkontakt hatte. Er hat langes Haar, trägt Schmuck mit Totenkopf-Motiven, Piercings – und ist fast am ganzen Körper tätowiert. Heute ist er deswegen kein Exot mehr, eine Kundin von ihm hat sogar bedauert, dass sie nicht 20 Jahre jünger sei: Roger Degen liefert Mittagessen für alte Menschen aus. Früher hätte er das mit seinem Aussehen kaum tun können. Denn früher, da habe er als «Knastbruder» gegolten. «Zum Glück war mir immer egal, was die Leute denken.» Ihm gefielen seine Tätowierungen, nie würde er sich eine weglasern lassen. «Die sind Teil von mir.»

Weglasern oder darüberstechen

Das sehen nicht alle so: Parallel zu den Tattoo-Studios wachsen die Angebote für Entfernungen. Anfang Jahr wurde in Zürich die erste «Tattooentfernungspraxis» eröffnet. «Es ist extrem gut angelaufen», sagt der Verantwortliche Adrian Gsell. Wie viele Tattoos bei ihm bereits entfernt wurden, sagt er nicht. Doch er rechnet vor: Wenn man davon ausgehe, dass etwa zwei Millionen Schweizer tätowiert seien und davon auch nur ein Prozent unzufrieden sei – könne man sich denken, wie gut das Geschäft mit der Entfernung laufe.

Es gibt jedoch auch eine andere Möglichkeit, den Namen des Ex-Geliebten oder die nicht mehr taufrische Rose loszuwerden. «Covern» heisst das Zauberwort, Tattoos überstechen und in ein neues Motiv integrieren. Roger Degen hat davon Gebrauch gemacht; er liess die Schlange, die er sich vor 30 Jahren stechen liess, verschönern. Auch Sirin Szabo denkt daran, ihr erstes Motiv umzuwandeln. Das «Tribal»-Muster, in dessen Kategorie auch das «Arschgeweih» fällt, ist aus der Mode und unpräzise gestochen. Mit der zunehmenden Möglichkeit, durch neue Technik feingliedrige Bilder zu stechen, steigt die Nachfrage nach Verbesserungen. Zudem verblassen die Farben nicht mehr. Roger Degens Tattoos auf den Armen sehen längst nicht so alt aus, wie sie sind.

Der deutsche Psychologe Erich Kasten hat sich in seinem Buch «Body-Modification» mit den psychologischen Aspekten von Tattoos befasst und kam zum Schluss, dass solche Veränderungen am Körper unter anderem Ausdruck einer erhöhten Risikobereitschaft sind. Für manche Tätowierte mag das stimmen, was derzeit aber passiert, ist vielmehr eine Zeiterscheinung, der in vielen Fällen kein tieferer Sinn zugrunde liegt. Auf die Frage «Weshalb tun Sie das?» antworten die meisten Tätowierten mit: «Weil ich es schön finde.» Auch Sirin Szabo gibt Schönheit als Grund für ihre «erst elf Tattoos» an. Sie ist überzeugt, dass durch die vielen bemalten Körper noch mehr Menschen auf den Geschmack kommen und sich der Spiess drehen wird: «In 20 Jahren ist ein Exot, wer nicht tätowiert ist», prophezeit sie.

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 10.08.12

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