Das Gute liege nah, und zu Hause sei es am schönsten, heisst es. Sicher ist das nicht. Sicher ist hingegen: Prüft man diese Aussagen hin und wieder auf ihre Richtigkeit, bleibt man nicht im Stau stecken. Dem Osterstau etwa.
Jedenfalls verläuft die Anreise ohne Zwischenfälle. Ich checke mit leichtem Gepäck ins Hotel Stücki ein, eine achtminütige Velofahrt von meiner Wohnung entfernt. Um trotz kurzer Reise in Ferienstimmung zu kommen, liess ich mir meinen Hinweg von Lucio Dalla besingen. Mit «L’ultima luna» auf den Ohren durchs vormittäglich-sonnige Basel zu radeln – die bestmögliche Annäherung an eine Toskana-Rundfahrt im Cabrio.
Nachdem ich pflichtbewusst das eine Hemd aufgehängt, den einen Satz Wäsche im Schrank verstaut, die Zahnbürste im Badezimmer platziert und den Ordner mit den «nützlichen Informationen für unsere Hotelgäste» durchgeblättert habe, rüste ich mich für das, was kommt. Trinkflasche, Notizblock, Fotokamera.
Vor mir: ein ganzer Tag «Einkaufsvergnügen» im Stücki Shopping.
Ins Stücki geht höchstens, so der Running Gag in der ganzen Stadt, wer mal ein paar Stunden für sich sein will. Ein Kollege, der sich unlängst an einem freien Tag dorthin verirrt hat, berichtet von leeren Ladenflächen und angeödetem Verkaufspersonal. Es sei dort so einsam und still, dass zum vollkommenen Wüstengefühl nur noch der vorbeirollende Steppenläufer und die zirpenden Grillen fehlten.
Im krassen Gegensatz dazu stehen die Aussagen der Immobilienfirma Wincasa, Eigentümerin des Einkaufscenters am Stadtrand in Kleinhüningen. Sie verspricht «Einkaufen als emotionales Rundum-Erlebnis», berichtet von einem «Aufblühen», von «Shopping in einer modernen und entspannten Atmosphäre».
Ist das Stücki nun wüste Ödnis oder doch das von den Werbetextern heraufbeschworene Konsumspektakel? Erlebnisreich, emotional, vergnüglich? Die beste Art, dies zu beantworten ist ein Kurzurlaub im Shoppingtempel.
Es ist ein blendend schöner Samstagmorgen, kurz nach halb zehn, als ich das Stücki betrete. Noch sind die Besucher spärlich, die Tischchen im Foodcourt zwischen Mc Donald’s und Subway kaum besetzt. Mich ziehts da hin, wo sich die wenigen anwesenden Menschen tummeln: ins Migros-Restaurant. Das Frühstück ist dort mit knapp sechs Franken aber auch unschlagbar günstig.
Bei Milchkaffee, Vollkornbrötchen und Birchermüesli spreche ich mir selber Mut zu. Heute will ich mich auf alle Erlebnisangebote einlassen, mögen sie auch noch so bekloppt sein. Ich bin schliesslich zum Spass hier.
Als Erstes lade ich die Stücki-App herunter. Klar doch, ohne App kommt heute nicht einmal mehr das Lufthygieneamt Basel-Stadt aus. Beim Öffnen der Applikation begrüsst mich etwas unerwartet ein angestrengt herziges Osterhäschen, das Schnuffi heisst und mich mit dümmlich-infantilem Stimmchen über ein Ostereiersuchspiel in Kenntnis setzt. Ich knipse dem Häschen das Licht aus. So langweilig ist mir nun wirklich noch nicht. Zu dem Zeitpunkt weiss ich noch nicht, wie dankbar ich Schnuffi später sein werde.
Lümmelnde Teenies und zugenagelte Schaufenster
Ein erster Rundgang. In den Geschäften tummeln sich da und dort bereits die ersten Kunden. Wo es Steckdosen hat, lümmeln Junge mit Smartphones vor dem Gesicht herum. Im ersten Stock hadert eine asiatische Reisegruppe mit dem Kaufentscheid: Modeschmuck von Thomas Sabo oder doch eine teure Schweizer Uhr von Juwelier Kurz?
Auf beiden Etagen stehen einige Ladenlokale leer, die Läden sind heruntergelassen, eine Ladenfront ist gar mit Brettern zugenagelt. Vor allem die Passage auf der westlichen Seite des langgezogenen Gebäudes strahlt den Charme eines Abfluggates um drei Uhr morgens aus. Die Frage nach der Leerstandsquote wird Stücki-Leiter Christian Mutschler später nicht, beziehungsweise so beantworten: «Den aktuellen Stand der Transformationsflächen kommunizieren wir nicht.»
Aber entlang der breiteren Passage, dort, wo sich die grösseren Geschäfte befinden, macht sich ab dem späteren Vormittag tatsächlich so etwas wie Betriebsamkeit breit. Und auch bei den Fast-Food-Ständen werden die Kunden zahlreicher.
Statt zirpender Grillen ist im Media Markt das eindringliche Sirren von Drohnen zu hören. Mitten im Geschäft steht ein kleiner Junge mit sehnsüchtigem Blick. Jede Wette, dass er seine Ausbildung (Primarschule) sofort abbrechen würde, wenn er stattdessen den Job des Verkäufers übernehmen könnte, der hier die Drohnen vorführt. Die «Drone Zone» ist ein Käfig aus Netzstoff, in dem die ferngesteuerten Fluggeräte getestet werden können.
In der Drohnenszene scheint eine Art Wettrüsten in Gang zu sein. Jedes Gerät kann ein bisschen mehr, sieht ein bisschen gefährlicher aus, hat ein paar Rotoren mehr als das vorherige. Ein Bildschirm zeigt, wie sich eine Surferin in gut sitzendem Bikini auf ihrem Brett über die Wellen tragen und dabei von einer Drohne verfolgen und in vorteilhafter Pose von hinten filmen lässt. Die Aufnahmen erinnern mich daran, dass ich im Kurzurlaub bin.
Spielzeug, das ausgebrütet werden muss
Auf der Suche nach einem emotionalen Rundum-Erlebnis begebe ich mich zu den Spielwaren.
Lego hat offenbar nicht mehr viel mit der Polizeistation zu tun, die damals meinen wertvollsten Besitz darstellte. Lego heute ist irgendwie digital, mehr Videogame als Spielzeug und trägt Monstergesicht — #notmylego.
Ausserdem gibt es ein Spielzeug, das zuerst ausgebrütet werden muss. Ein bunt gesprenkeltes Ei richtet sich an seine, mutmasslich junge, Zielgruppe und sagt: «Nur durch deine liebevolle Pflege kann ich dieses Kunststoffei verlassen und mein volles Spielzeugfigurenpotenzial entfalten.»
Ein kleiner Junge, die Sohlen seiner Turnschuhe blinken und verraten eine gewisse Affinität zu moderner Technologie, fühlt sich dadurch wohl angesprochen. Er hätte gerne eines dieser «Hatchimals» und hängt seiner Mutter quengelnd am Arm.
Mir wird das bald zu kindisch. Auf der Suche nach Zerstreuung wende ich mich Schnuffi zu, dem Stücki-Häschen in meinem Telefon.
Das süsse Häschen hat irgendwo im Stücki vier Eier versteckt, die ich dank «augmented reality» mit meiner Smartphone-Kamera suchen kann. Jedes gefundene Ei gibt Punkte, die man am Infodesk gegen eine «süsse Überraschung» und Einkaufsgutscheine tauschen kann. Ich eiere erfolglos durch die Gänge, bis mich die Frau hinter der Saftbartheke misstrauisch zu mustern beginnt, weil ich ihre fruchtbefrachtete Auslage bereits zum fünften Mal passiere.
Entnervt fälle ich einen Kaufentscheid und bestelle im Starbucks einen Filterkaffee. Endlich bin ich auch wieder Konsument. Auf dem Weg nach draussen begegne ich der asiatischen Reisegruppe, die noch immer unschlüssig wirkt. Ich knipse ein Urlaubs-Selfie in der Sonne.
Zur Mittagszeit ist der Foodcourt gut besucht. Ganze Familien kommen zusammen, um bergeweise Happy Meals, Big Macs und Mc Flurrys zu vertilgen. Der Anblick schlägt mir etwas auf den Magen, ich bestelle ein Salätchen.
Nach etwas mehr als drei Stunden Stücki scheint mir das Erlebnisangebot ausgereizt. Eine halbe Stunde verbringe ich damit, etwas unmotiviert nach einer Badehose zu suchen (Ferienstimmung!) und ein lachsfarbenes Exemplar (oder ist es Aprikose?) anzuprobieren. Es sitzt schlecht.
Die Langeweile lässt sich jetzt nicht mehr wegdiskutieren. Ich wünsche mir die 18 Kinosäle herbei, die hier dereinst für mehr Besucher sorgen sollen. Kurz überlege ich, ob ich mir das Stücki mit ein paar der Schnapsminiaturfläschchen von der Denner-Kasse schöntrinken soll.
Stattdessen frage ich in der Apotheke nach einem rezeptfreien Stimmungsaufheller. Ja, für mich, nicht für einen Freund. Der Apotheker rät mit besorgtem Blick und vor Anteilnahme warmer Stimme zu Johanniskraut. «Trinken Sie diesen Tee, dann wird es ihnen besser gehen», sagt er aufmunternd. «Es dauert allerdings zwei Wochen, bis die Wirkung spürbar wird.» Ich nicke. Dann bin ich hoffentlich nicht mehr hier, denke ich still.
Verzweifelt, wie ich bin, braue ich mir auf dem Hotelzimmer trotzdem eine Tasse Johanniskrauttee. Extrastark, mit zwei Beuteln.
Ich google «Langeweile im Einkaufscenter». Irgendeine Agentur will mir weismachen, dass «interaktive Shoppingerlebnisse» die innovativste Art seien, «Kunden zu beschäftigen und zu unterhalten». Die offenkundige Verzweiflung der Detailhandelsbranche schlägt mir weiter aufs Gemüt.
Zurück im Stücki meldet sich dann endlich mein Telefon. «In der Nähe liegt ein Ei», lässt mich Schnuffi wissen. Dieses Erfolgsgefühl und das Johanniskraut in meiner Blutbahn heben meine Stimmung merklich. In der Migros schlage ich ein kleines Büchlein mit dem Titel «Hemmungsloses Glücklichsein» auf. Konfuzius sagte: «Freude ist überall, es gilt nur, sie zu entdecken.»
Das will ich mir zu Herzen nehmen. Ich gehe zurück in den Mediamarkt, Drohnen testen.
Der junge Verkäufer in der Drone Zone drückt mir eine Fernsteuerung in die Hand. Auf dem Fluggerät sitzt Super Mario. Diese Drohne würde mich im internationalen Wettrüsten wohl etwas lächerlich aussehen lassen. Ebenso meine Flugkünste. Nachdem ich beinahe den Verkäufer am Kopf getroffen habe («Keine Sorge, ich bin versichert.»), bruchlande ich das Ding auf einer anderen, grösseren und ungleich teureren Drohne. Dann ist der Akku leer. Der Verkäufer nimmt mir die Fernsteuerung mit einem erleichterten Seufzer aus der Hand.
Muskelbepackt, tätowiert und bärtig
Während ich überlege, mit dem Rauchen anzufangen, nur weil im Kiosk eine attraktive Zigi-Promotion stattfindet, verkündet eine freundliche Frauenstimme über die Lautsprecher die bevorstehende Schliessung des Einkaufscenters. Ich kann meine Erleichterung nicht verbergen. Endlich Abendsonne statt Kunstlicht.
Die Zeit bis zum Abendessen vertreibe ich mir im Fitnessstudio, das zum Stücki gehört. Dort fallen meine Muskeln, Tätowierungen und der Bartwuchs im Vergleich zu den kantig-virilen Stammkunden stark unterdurchschnittlich aus. Enttäuschte Ladenbetreiber haben der Stücki-Leitung zuletzt vorgeworfen, die Besucherzahlen mit den regelmässig wiederkehrenden Fitnesskunden zu schönen. Ob das stimmt, kann ich nicht beurteilen. Das Gym ist jedenfalls angenehm halb leer.
Ausgepowert und hungrig streife ich mir eineinhalb Stunden später ein Hemd über, dann gehts ins Steakhouse. Das Restaurant «Block House» gehört seit Eröffnung des Stücki zum Inventar. Nach dem soliden Rib-Eye bestelle ich statt eines Desserts ein zweites Bier (Brooklyn Lager). Ein Entscheid, der von Kellner Lukas mit einem anerkennenden Grinsen quittiert wird.
Zurück im Hotelzimmer schalte ich den Fernseher ein. Teleshopping. Ein würdiger Abschluss meines Kurzurlaubs, wie ich finde. Ein enthusiastischer Fernsehkoch will mir ein Gemüsewürfelschneidegerät (Nicer Dicer) andrehen, eine aufgedrehte Endfünfzigerin schwärmt von ihren Trekkingschuhen mit Glitzereinlage («Auch da dürfen Sie Frau sein»).
Zum Einschlafen blättere ich im Roman «Vier Äpfel» von David Wagner. Die Geschichte dreht sich um einen Mann, der durch einen Supermarkt streift. Die Auslage dient ihm als Ausgangspunkt unzähliger Assoziationen. Bei den Äpfeln sinniert er über die symbolische Kraft dieser Frucht, bei den Joghurts denkt er an eine verflossene Liebe, die Fischstäbchen lassen ihn in Kindheitserinnerungen tauchen.
Wagner, der Autor, muss für seine Recherche unendlich viel Zeit in Supermärkten verbracht haben. Und liess seinen Helden sich dann doch aus dem Einkaufsladen hinausträumen. Beim Zahlen an der Kasse etwa denkt er:
«Manchmal kommt es mir vor, als könnte ich mich ans Jagen erinnern, einen Speer in der Hand, unterwegs in der Savanne. Eine Million Jahre Jagen und Sammeln, achttausend Jahre Landwirtschaft, neunzig Jahre Supermarkt. Kein Wunder, dass ich verwirrt bin, es ging doch alles ziemlich schnell.»
Ich kann ihn gut verstehen. Auf dem Heimweg am nächsten Morgen träume ich mich dank Lucio Dalla wieder in den Süden.