Der Ökonom Christian Kreiss fordert einen radikalen Umbau unseres Wirtschaftssystems. Im Interview erklärt er, warum eine hohe Vermögenssteuer zu einem Immobilien-Boom führen würde.
Wir treffen Christian Kreiss in der Nähe des Stuttgarter Bahnhofs im Café eines Fünf-Sterne-Hotels – ein anderes gab es nicht. «Ich bin sonst nie in solchen Luxushotels», sagt er bei der Begrüssung.
Nach eineinhalb Stunden muss Kreiss weiter, er hält einen Vortrag bei einem Naturschutzverband. Mit seiner lebhaften Art zu sprechen ist er ein beliebter Gastredner, als Betriebsökonom an der Hochschule Aalen in Baden-Württemberg eckt er häufig an – mit unkonventionellen, kritischen Theorien.
Nach seinem Wirtschaftsstudium hat Kreiss sieben Jahre als Investmentbanker gearbeitet, dann kam seine Wandlung zum Systemkritiker. «Im Verlauf der Jahre fragt man sich bei dieser Arbeit: Wer profitiert eigentlich? Was richte ich damit an? Wenn man etwas Distanz gewinnt, dann merkt man, dass man eigentlich immer nur für eine ganz kleine Klientel von Wohlhabenden arbeitet und zulasten sehr vieler anderer Menschen.»
Aus seinem zunehmenden Unbehagen entwickelte Kreiss eine Abneigung gegen kapitalistische Umgangsformen. «Ein schleichender Prozess», wie er selbst sagt.
Wenn man ihm heute beim Sprechen zuhört, würde man keinen langjährigen Bankangestellten in ihm vermuten. Es ist ihm wichtig zu betonen, er sei ein «entschiedener Marx-Gegner», der jegliches sozialistische System verabscheut. Nur: «So wie das System jetzt läuft, kann es nicht weitergehen.»
In seinem Buch «Profitwahn» (2013) geht es um die «Diktatur der Finanzmärkte», in «Geplanter Verschleiss» um die Frage, ob und weshalb alltägliche Produkte immer schlechter hergestellt werden. Im April erscheint «Gekaufte Forschung». Zu viel darf er noch nicht verraten, es geht um die Finanzierung von Wissenschaftlern durch die Industrie – es dürfte ein weiteres systemkritisches Manifest werden.
Seit bald zehn Jahren kennen Ökonomen nur noch ein Wort, wenn es um die Wirtschaftslage geht: Krise. Haben wir ein grundlegendes Problem?
Es ist letztlich eine Systemkrise, in der wir uns befinden. Ich bin kein Katholik, aber für einmal finde ich die Analyse des Papstes zur Wirtschaftssituation brillant. Er hat letztes Jahr im Juni gesagt: Der Kapitalismus braucht wie alle grossen Imperien regelmässig Kriege zum Überleben. Der Papst warnt vor zu viel Akkumulation von Kapital. Das Kernproblem ist im Moment, dass das Geld nicht weiss, wo es hin soll. Und das führt zu Blasen. Überall. An den Banken, Märkten, in der Industrie.
Wollen Sie damit sagen, dass es einen Krieg braucht?
Nein, natürlich nicht. Ich sage nur, dass diese Gefahr besteht. In der Geschichte erfolgte die Bereinigung von Überakkumulationen unter anderem durch Kriege. In meinem Buch «Profitwahn» spreche ich von 70-Jahre-Zyklen, die eine Überakkumulation hervorrufen. Das betrifft beispielsweise die Phase von 1850 bis 1914, die dann im Ersten Weltkrieg mündete. Die Überakkumulation kann selbstverständlich auch anders abgebaut werden – beispielsweise über einen Vermögens- und Schuldenschnitt. Das würde heissen, etwa 30 bis 50 Prozent aller Schulden zu streichen.
Bei wem?
Im Prinzip quer durch alle Kapitalien.
Also bei Privaten, Staaten, Unternehmen?
Ja, bei allen. Private Schulden inklusive Unternehmensschulden machen übrigens den grössten Teil aus – etwa zwei Drittel bis drei Viertel aller Schulden. Etwa ein Drittel bis ein Viertel sind Staatsschulden.
Sie wollen Schulden streichen, die Europäische Zentralbank (EZB) macht das Gegenteil, indem sie ankündigte, eine Billion Staatsanleihen der Euro-Länder aufzukaufen.
Die Staatsanleihen-Käufe der EZB ändern am Grundproblem nichts. Sie geben uns die Illusion, dass die Leute mehr Geld haben und mehr einkaufen gehen.
Haben wir in der Schweiz also kein Verteilungsproblem?
Die ungleichen Einkommen müssen nicht bereinigt werden. Man könnte sich überlegen, wie das Ungleichgewicht zwischen den Vermögen abgebaut werden kann.
In der Schweiz stimmen wir über eine Erbschaftssteuer bei Vermögen über zwei Millionen ab. Was halten Sie davon?
Erbschaften besteuern finde ich gut – es reicht aber nicht. Wir können das exponentielle Wachstum damit nicht verhindern. Das Problem wird dadurch nur aufgeschoben. Kennen Sie die Geschichte vom Josephs-Pfennig?
Alle Privatvermögen über zehn Millionen wollen Sie konfiszieren?
Der Vorschlag von Felber ist radikal. Das würde ich so nicht vorschlagen. Mein Vorschlag ist eine Vermögenssteuer. Alle Vermögen über zwei, drei, vier Millionen Euro – über die Freibeträge lässt sich streiten – sollen stärker besteuert werden. Eine Vermögenssteuer auf Immobilien, die ich nicht selbst nutze, als Eigenheim oder als Landwirt beispielsweise, mit etwa drei Prozent erheben. Also eine Steuer auf alle Vermögenswerte. Das bezieht sich auch auf Aktienpakete, Unternehmens- und Geldbesitz.
Politisch lässt sich das kaum umsetzen.
Das glaube ich nicht. Denn wenn wir diese Steuer einführen würden, würden rund 95 Prozent der Bevölkerung davon profitieren.
Aber Investoren und Wohlhabende, die nebenbei gesagt einen grossen Teil der Steuern zahlen, würden ihr Geld sofort auf die Cayman Islands tragen, um weniger Steuern zu zahlen.
Kapitalflucht ist sicherlich ein Thema. Man könnte deshalb bei den Immobilien anfangen – die können Sie erstmal nicht auf die Cayman Islands verfrachten. Immobilien machen in Deutschland ungefähr die Hälfte aller Vermögenswerte aus, also etwa fünf Billionen Euro.
Es würden wahrscheinlich keine neuen Investoren für Bauprojekte gefunden.
In der Schweiz leben ungefähr 40 Prozent der Haushalte in der eigenen Immobilie. Wenn ich jetzt Immobilien besteuere, für diejenigen, die sie nicht selbst nutzen, dann wird der Hausbau billiger für die, die die Immobilie selber nutzen. Die Bodenpreise würden somit sinken, und es könnten sich plötzlich viel mehr Haushalte die eigenen vier Wände leisten. Ich behaupte, wir würden mittelfristig einen Immobilien-Boom erleben. Es gäbe eine Umschichtung von Mietwohnungsbau in Eigenwohnungsbau.
Irgendwann wäre die Nachfrage aber abgedeckt, dann würde niemand mehr bauen.
Irgendwann ja – aber das dauert sicher über 30 Jahre, bis wir eine Hauseigentumsquote von vielleicht 70 Prozent haben. Man könnte diese Steuer auch so ausarbeiten, dass ein Anreiz zum Bauen entsteht.
Ihre Vorschläge mögen anregend sein, sie gehen aber komplett an der politischen Realität vorbei. Die Leute wählen keine Politiker mit sozialpolitischen Fantasien, sondern konservative Kräfte, die den Status quo bewahren.
Das finde ich tragisch. Es wird insinuiert: So wie es ist, ist es alternativlos. Kapitalismus sei das einzige System, das funktioniert, viel besser als Sozialismus – was nebenbei gesagt ja auch stimmt. Dabei gäbe es Alternativen zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Beispielsweise eine Gemeinwohlökonomie. Menschen wie der Post-Wachstums-Ökonom Niko Paech und ich sagen: Lasst uns das anders denken und das System reformieren.
Viele Menschen sind glücklich, wenn sie eine Arbeit haben, Geld verdienen und konsumieren. Warum sollte man das System also ändern?
Die Frage ist, wie zufrieden die Menschen in diesem System sind. Ich meine, dass dieses System unnötige Arbeit hervorruft, die wir geradeso gut sein lassen können. Paech sagt beispielsweise, dass wir nur 20 Stunden pro Woche arbeiten müssten. Ich behaupte, in einem solchen System ginge es uns auf allen Ebenen besser. Wir hätten mehr Zeit für unsere Kinder, mehr Zeit für unsere Freunde, mehr Zeit zur Pflege von alten oder kranken Menschen. Stattdessen machen wir 40-Stunden-Wochen – arbeiten, arbeiten, arbeiten. Dadurch gibt es Stress und Burnout-Syndrome.
«Ein gewisses Konkurrenzverhalten ist menschlich. Aber es steckt auch ein Gemeinwohl-Impuls in uns allen.»
In einer Gemeinwohlökonomie steht die Kooperation im Vordergrund. Glauben Sie, dass unsere Gesellschaft ohne wirtschaftliche Konkurrenz funktioniert?
Konkurrenzdenken wird uns heute ab dem Kindergarten, in der Grundschule eingetrichtert. Das halte ich in diesem Ausmass für schädlich. Ein gewisses Konkurrenzverhalten ist natürlich menschlich. Aber es steckt auch ein Gemeinwohl-Impuls in uns allen.
Wirtschaftliche Konkurrenz führt zu Innovation. In der Pharma-Branche beispielsweise werden gewisse Forschungen nur durch wirtschaftliche Konkurrenz angestossen.
Die grossen Erfindungen – Penizillin zum Beispiel – sind doch gerade nicht aus dem Wettbewerb, sondern aus einem Forschergeist entstanden. Oder durch Zufälle.
Trotzdem kann Konkurrenz wirtschaftsfördernd sein.
Es gibt dieses Buch «Traumfänger» von einer Amerikanerin, die in Australien bei den Aborigines lebt. Dort bringt sie den Eingeborenen einen Wettlauf bei. Da sagen die Aborigines: Aber da verliert doch einer. Und sie schlagen ihr ein anderes Spiel vor: Wippen. Da verliert keiner. Den Aborigines ist das einseitige Wettbewerbsdenken offensichtlich ganz fremd. Das Gemeinwohldenken ist viel stärker verankert. Ich will jetzt nicht die Kultur von Naturvölkern lobpreisen, es geht mir nur darum zu zeigen, dass es ganz andere Mindsets gibt als unser Konkurrenzdenken. Es ist nicht per se falsch, aber in der einseitigen Form, wie es bei uns existiert, halte ich das Konkurrenzdenken für schädlich.
Im April erscheint das neue Buch von Christian Kreiss. Es heisst: «Gekaufte Forschung». (Bild: Michael Geiger)
In seiner Promotion beschäftigte sich Kreiss mit den Folgen der Grossen Depression (1929). Als Vortragsredner tourt er quer durch den deutschsprachigen Raum und schreibt systemkritische Bücher. Zuletzt erschienen: «Profitwahn» (2013) und «Geplanter Verschleiss» (2014).