Ausser in Spanien und Griechenland sind in Europa nirgends so viele Jugendliche arbeitslos wie in Portugal. Ein Besuch in der Algarve zeigt aber: Die Menschen sind trotzdem optimistisch.
Die Frauen tragen Schürzen und Kopftücher, die Männer Gilets und Filzhüte. Sie rühren Mais in Eisentöpfen und braten Würste auf dem Grill. Das offene Feuer treibt die sommerliche Temperatur in die Höhe. Ein Elektroherd ist nicht zu sehen am «Festa Populares» in Boliqueime, genauso wenig wie Plastikgeschirr oder Coca Cola.
Einmal im Jahr ist hier alles wie damals, vor zweihundert Jahren, als es noch keinen Strom aus der Steckdose gab und keine Einweg-Servietten. Abgesehen von diesem Fest ist in der Algarve aber vieles nicht mehr, wie es war. «Meine Eltern haben immer gesagt, wir hätten mehr Chancen als sie damals. Seit der Krise schwärmen sie von ihrer eigenen Jugend und davon, wie gut alles war», sagt die 17-jährige Susanna. Sie lehnt mit ihren Freunden an der Kirche und beobachtet die Menschen beim Essen, Trinken, Lachen.
Nagellack, Haargel und Träume
Das Sackgeld der Jugendlichen reicht für einen Fruchtsaft oder ein Stück Kuchen. Seit der Krise erhalten sie weniger Geld. «Meine Eltern müssen sparen», sagt Diogo, ebenfalls 17 Jahre alt. Seine Mutter arbeitet an einer Tankstelle, der Vater ist Lastwagenchauffeur. Für die gleiche Arbeit gibt es plötzlich weniger Lohn. Oder umgekehrt: Hotelangestellte müssen in zwei Stunden zwanzig statt zehn Zimmer putzen. Bei Diogos Familie gibt es seit einiger Zeit seltener Fleisch und es wird plötzlich auf den Wasserverbrauch geachtet. Er selber hat gerade die Schule beendet und möchte Fotograf werden – «irgendwann, wenn es Portugal besser geht», sagt er. Derzeit sucht er einen Ferienjob, egal was. Die Ausbildung muss warten, ein bisschen Geld tut der ganzen Familie gut.
Ältere Kollegen von Diogo müssen gar das Studium unterbrechen, um als Verkäufer oder Kellner etwas Geld zu verdienen, sofern sie überhaupt einen Job finden. Besser scheint es derzeit nicht zu werden. Bald werden auch bei Privaten Leistungen wie das «Weihnachtsgeld» gekürzt, steht heute gross in der Zeitung, die am Fest herumliegt. Jeder sieht den Artikel, keiner mag darüber reden. Es ist Zeit zu feiern.
Seit es finanziell schlecht um das Land steht, werden etliche Festivals abgesagt. Dorffeste wie dieses aber wird es immer geben, sagen alle, die danach gefragt werden. Hier treten keine bekannten Rockbands auf und es gibt keine Schiessbuden und Karussells. Bloss einfache Stände rund um die Kirche mit Sitzbänken. Das Einzige, was es zu kaufen gibt, sind Körbe, die alte Frauen im traditionellen Stil flechten. Ausserhalb des Kirchplatzes verkaufen Romas Heissluftballons mit Superman-Motiven. Sie dürfen ihre Ware nicht am Fest anbieten – Superman fällt in die Kategorie von Coca Cola.
Wenn in Boliqueime nicht gerade die Vergangenheit zelebriert wird, ist es ein typisches portugiesisches Dorf. Die Mädchen lackieren sich die Fingernägel, die Jungs reiben Gel in die Haare, sie hören Coldplay und Rihanna, träumen von Weltreisen und der grossen Liebe. Es ist ein modernes Land.
EU ist nie richtig angekommen
Doch anders als etwa in Italien oder Spanien scheint die EU hier, am westlichsten Zipfel Europas, nie richtig angekommen zu sein: Nur selten wehen blaue EU-Fahnen neben der portugiesischen, das Rauchverbot wird fast überall ignoriert, Polizisten helfen einem beim Falschparkieren, wenn es nicht anders geht. Bloss die von der EU verordnete Autobahn-Gebühr wurde durchgesetzt – und ist vielen Leuten zu teuer, weshalb sie die Landstrasse nehmen, wenn diese auf dem Weg liegt.
Es ist nicht nur die EU, die im Alltag wenig spürbar ist, sondern auch die Wirtschaftskrise. Obwohl überall halb fertige Häuser stehen, an denen längst nicht mehr gebaut wird, und wegen Krise und erhöhter Mehrwertsteuer weniger Touristen in die Algarve reisen, sind die Menschen zuversichtlich. Sie wissen zwar, dass sie in der traurigen Hitparade der Jugendarbeitslosigkeit mit 36,4 Prozent den dritten Platz hinter Spanien und Griechenland belegen und ihnen ein ähnliches Schicksal droht, lassen den Kopf aber nicht hängen, sondern schauen stolz vorwärts. Es ist nicht Ignoranz, es ist der Glaube an das Gute, die Hoffnung daran.
Die 25-jährige Sofia Isabel Mendes dos Santos hat es besonders hart getroffen: Nach dem Sozialarbeit-Studium an einer Hochschule half sie Drogenabhängigen, Arbeit zu finden. Durch sie fanden etliche Menschen zu einem mehr oder weniger normalen Leben zurück. Nun ist Sofia selber in der Situation, in der ihre Klienten waren. Mit dem Unterschied, dass sie keine Drogen nimmt und niemanden hat, der ihr bei der Jobsuche hilft.
Die Suchtberatungsstelle musste sparen, Sofia wurde entlassen. «Ich bin besorgt», sagt sie. Wenn sie bis im Januar keine Stelle gefunden hat, müssen ihr Freund und sie aus ihrer Mietwohnung ausziehen. Sein Sanitäter-Gehalt reicht nicht für beide. Und das Arbeitsamt zahlt nur noch bis im Januar. 674 Euro erhält Sofia im Monat; als sie noch arbeitete, waren es 995 Euro. «Ich gehe nicht mehr ins Kino, nicht mehr auswärts essen, kaufe keine Kleider mehr», sagt sie. Was ihr bleibe, sei der Strand. Sofia rechnet nicht damit, in nächster Zeit eine Stelle auf ihrem Beruf zu finden, zu viele Sozialarbeiter gibt es in Portugal.
Einige von den Jungen am Dorffest nannten «Sozialarbeiter» als Wunschberuf. Sofia sagt: «Ich hoffe, dass ich wenigstens einen Job in einer Boutique finde.» Es bleibe ihr nichts anderes übrig. Doch es gehe bald wieder aufwärts, glaubt sie. «Ich bin sicher, dass es mit Portugal nie so weit kommen wird wie mit Griechenland.» Dem Rat mancher Politiker in Lissabon, im Ausland Arbeit zu suchen, will sie nicht folgen. Zu schlecht sei ihr Englisch, sagt sie – auf Portugiesisch.
Golfplätze und gesunde Palmen
Englischkenntnisse sind in der touristischen Algarve wichtig. Sogar für eine Stelle bei McDonald’s ist Englisch Voraussetzung. Der 18-jährige Andre etwa hat deshalb eine Stelle in einer McDonald’s-Filiale im Touristengebiet gefunden. Im Herbst beginnt er ein Studium als Informatik-Ingenieur. Bereits jetzt überlegt er sich, was er tun würde, wenn er nach der Uni keine Stelle finden würde: «Erste Adresse wäre auch dann McDonald’s.» Sein Arbeitskollege Joao, ebenfalls fertig mit der Schule, will gar nicht erst an die Universität. «Mir gefällt der Job.» Er sei froh, eine Arbeit zu haben. Die knapp 500 Euro Lohn reichten ihm.
Die McDonald’s-Filiale, wo die beiden arbeiten, befindet sich nur wenige Kilometer von der Hochburg der Reichen entfernt. Hier gibt es Golfplätze, goldene Strassenschilder, die Laternen in den Hotelanlagen brennen auch tagsüber und Gärtner spritzen die Hibisken trotz Wasserknappheit bei der grössten Hitze. Golfkurse für 80 Euro in der Stunde werden angepriesen und die Warnschilder für Fussgänger blinken ununterbrochen. Die Palmen sind tiefgrün und kerngesund. Hier erfüllt die Regierung ihren Auftrag, Palmen vom schädlichen Rüsselkäfer zu schützen, der den Mittelmeerraum bedroht. Das Ausmass der Zerstörung wird überall sonst in der Algarve sichtbar: Da stehen Dutzende geköpfte Palmen, bestehend nur noch aus dem Stamm.
Und auch die Strassen sind dort nicht so sauber gefegt wie bei den Reichen, Plastiksäcke fliegen umher und es liegt auch mal Müll offen herum. Ein bisschen Mühe scheinen sich die Verantwortlichen jedoch überall zu geben, schmutzig ist es nirgends. Ausser dort, wohin sich nie Touristen verirren. Dort, wo die Roma in Wellblechhäusern leben. Es sind eher kleine Siedlungen, genauso wie die Hochburg der Reichen nur einen Teil der Gegend ausmacht. Dazwischen liegt die Realität, in der die meisten Portugiesen leben. Und da fällt auf, dass in vielen Gärten Tomaten und dergleichen wachsen.
Obwohl Gemüse nicht in ihren Bereich fällt, hat Patricia Seromenho eine Erklärung für den Boom in heimischen Gärten: «Die Menschen fangen an, sich selber zu helfen, sie finden zurück zu alten Werten.» Sie wird es wissen: Jahrelang war sie in leitender Position des Arbeitsamtes, jetzt ist sie Präsidentin der grössten sozialen Institution der Algarve. Die «Santa Casa da Misericordia» betreut Menschen mit unterschiedlichen Schicksalen – misshandelte Frauen, Behinderte und Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen.
Die Krise mache ihre Arbeit allerdings nicht einfacher, sagt Patricia Seromenho. Ihre Prognose ist düster: «Im Winter wird sich die Situation stark zuspitzen», sagt sie. Als die Krise vor drei Jahren begonnen habe, sei das Arbeitsamt in kurzer Zeit überfüllt gewesen. «Inzwischen schreiben sich dort doppelt so viele Menschen ein wie damals.» Die Krise führe zu einem Dominoeffekt: Die Renten würden gekürzt, die Preise für Alltägliches wie Strom und Wasser dagegen erhöht.
Rückschritt für die Gesellschaft
Diese Entwicklung – gekoppelt mit Arbeitslosigkeit in den Familien – führe unter anderem dazu, dass Jugendliche die Eltern finanziell unterstützen müssten. «Das ist ein Rückschritt für unsere Gesellschaft», sagt Patricia Seromenho. Und zudem nicht einfach, da viele dieser Jugendlichen noch gar keine Ausbildung hätten und auf niederschwellige Jobs angewiesen seien. Solche Stellen seien früher vor allem in der Baubranche angeboten worden, einer Branche, die jetzt im wahrsten Sinne des Wortes brach liege.
Doch obwohl «Donna Patricia», wie sie ehrfürchtig genannt wird, an der Quelle des Elends sitzt, ist auch sie zuversichtlich. «Ich glaube daran, dass der Optimismus der Menschen hilft, diese Krise zu überstehen.» Am Dorffest von Boliqueime tanzt sie mit Schürze und Kopftuch – und ist so Teil des Volkes. Inmitten von Armen, Jungen, Politikern. Es ist der Zusammenhalt, der die Menschen glauben lässt.
Und der Frohsinn. Bisher hat er es geschafft, im Süden Portugals über die Krise zu siegen.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 13.07.12