Mangelernährung und ihre wirtschaftlichen Folgen sind Thema des G-8-Gipfels von nächster Woche. Der Bericht aus Burundi zeigt die Realität jenseits von Gipfeln.
Der kleine Junge schreit wie am Spiess. Er schaukelt in einer Art Beutel an einer Waage, die an einem Baum aufgehängt ist. Neun Kilo zeigt die Anzeige an. Viel zu wenig für einen Vierjährigen. Seine Mutter hebt ihn hoch und stellt ihn wieder auf seine dünnen Beinchen. Erleichtert hört er auf zu weinen.
Eine Frau trägt Gewicht, Grösse und Armumfang in eine Liste ein. Alle Werte belegen: Der Junge ist chronisch mangelernährt, so wie viele hier in Karimbi, einem Dorf im Nordosten Burundis. Kleine Häuser aus rötlichbraunen Lehmziegeln verteilen sich über die zum Teil steilen Hänge der bergigen Region. Die Vegetation ist üppig, geprägt von Bananenstauden, Kaffeesträuchern und kleinen Gemüsefeldern.
Es reicht kaum zum Leben
Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung lebt hier von der Subsistenz-Landwirtschaft. «Was wir anbauen, reicht nicht, um unsere Kinder ordentlich zu ernähren», erzählt Rosette Bizimana, die Mutter des kleinen Jungen. Die schmächtige Frau wirkt kraft- und hoffnungslos. Auf der winzigen Parzelle ihrer Familie baut sie Bohnen, Kassava und Süsskartoffeln an, doch mit der kargen Ernte kann sie oft nicht mehr als eine Mahlzeit am Tag zubereiten. «Meistens gehen wir hungrig schlafen.»
Landesweit leiden rund 60 Prozent der Kinder unter fünf Jahren an Hunger.
Burundi ist eines der ärmsten Länder der Welt. In Provinzen wie Muyinga, in der auch das Dorf Karimbi liegt, mussten die Menschen schon zahlreiche Hungerkrisen durchstehen. Weniger sichtbar, aber wesentlich gravierender sind jedoch die Konsequenzen der chronischen Mangelernährung, des sogenannten versteckten Hungers. Landesweit leiden daran 58 Prozent der Kinder unter fünf Jahren.
Die Gründe sind vielfältig. Burundi ist noch immer von den Folgen des Konflikts gezeichnet, der Anfang der 1990er-Jahre in einem Bürgerkrieg eskalierte. Über ein Jahrzehnt erlebte das Land zahlreiche Phasen von ethnischer Gewalt zwischen der Hutu-Mehrheit und der Tutsi-Minderheit.
Schätzungen zufolge wurden 300’000 Menschen getötet, etwa 1,3 Millionen waren zeitweise intern vertrieben oder ins Ausland geflohen. Mittlerweile sind die meisten wieder in ihre Heimat zurückgekehrt, so wie Rosette Bizimana und ihr Mann. «Wir haben damals von null angefangen», erinnert er sich. Felder waren nicht bewirtschaftet worden, Schulen und Kliniken zerstört, ebenso wie das gegenseitige Vertrauen unter den Menschen. Die Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Krieg hat sich für die Familie noch nicht erfüllt. «Es ist ein täglicher Überlebenskampf.»
Dauernd im Überlebenskampf
Zu Kriegsfolgen und bitterer Armut kommt die hohe Bevölkerungsdichte – eine der höchsten Afrikas, mit steigender Tendenz. Schon jetzt leben in Burundi auf einem Quadratkilometer im Durchschnitt über 300 Menschen, nahezu 90 Prozent in ländlichen Regionen. Zum Vergleich: In der Schweiz sind es unter 200, inklusive der Städte.
Dabei ist das Überleben von Kleinbauern wie Rosette Bizimana und ihrer Familie unmittelbar vom Ertrag ihres Ackerlandes abhängig. Ausser der Landwirtschaft gibt es kaum eine andere Einkommensmöglichkeit. Wer Glück hat, besitzt ein Feld in der Ebene und nicht an den steilen Berghängen, die nur schwer bewirtschaftet werden können. Etwas wohlhabendere Nachbarn können Felder dazukaufen, den Ärmsten bleibt nur der immer kleiner werdende Anteil am Familienbesitz.
Mit jeder Generation schrumpfen die Parzellen, aufgeteilt unter den männlichen Erben. «Ich weiss nicht, wie unsere Kinder einmal hier überleben sollen», sagt die vierfache Mutter nachdenklich. Wenn sich nichts ändert, wird sich die Notsituation der Bevölkerung noch weiter zuspitzen. Schon jetzt kommt es regelmässig zu Konflikten ums Land.
Ein Fenster auf das Leben
Die chronische Mangelernährung der Bevölkerung verschärft die Krise. Viele Babys kommen bereits unterernährt auf die Welt, da es schwangeren Frauen an wichtigen Nähr-, Mineralstoffen und Spurenelementen fehlt. Selbst wenn sie überleben, ist das körperliche Wachstum mangelernährter Kleinkinder gehemmt, ihre Immunabwehr schwach. «Meine Kinder sind oft krank», erzählt Rosette Bizimana. Sie bekommen Durchfall, Malaria oder Ödeme. Ihr ohnehin schwacher Körper wird weiter ausgezehrt.
Doch die Folgen seien noch viel weit reichender, betont Johannes Wedenig, Repräsentant des internationalen Kinderhilfswerks Unicef in Burundi. «Die ersten 1000 Tage sind ein einmaliges Fenster auf das Leben.» Der Zeitraum von der Empfängnis bis zum vollendeten zweiten Lebensjahr gilt als Fundament der weiteren Entwicklung, nicht nur der körperlichen, sondern auch der kognitiven.
Im Gehirn entsteht das komplexe neuronale Netz, die Synapsen werden ausgeformt. Grundstein für die spätere soziale und intellektuelle Kapazität, die Anpassungs- und Lernfähigkeit. Die chronische Mangelernährung beeinträchtigt dies massiv. «Das ist ein gewaltiges Problem, weil es kaum mehr aufholbar ist», betont Wedenig. Einige der Schädigungen sind irreversibel.
Auf einem Schulhof ganz in der Nähe von Karimbi toben mehrere hundert Kinder. Die meisten sind viel zu klein für ihr Alter. Siebenjährige haben einen Körperbau wie Fünfjährige. Ein deutliches Indiz für chronische Mangelernährung. «Diese Kinder können sich schlechter konzentrieren und haben Schwierigkeiten, dem Unterricht zu folgen», erklärt Schuldirektor Godefaoid Dusabumuremy.
Landesweit bricht etwa die Hälfte der Kinder die Grundschule ab. Das Bildungsniveau der Bevölkerung ist dementsprechend niedrig, der Teufelskreis der Armut setzt sich fort. Mehrere Studien haben ergeben, dass Menschen, die in ihrer frühen Kindheit unter Mangelernährung gelitten haben, in ihrem späteren Berufsleben gut ein Fünftel weniger verdienen. Dazu kommen die verringerte Leistungsfähigkeit Erwachsener, etwa durch chronischen Eisenmangel, und hohe Gesundheitskosten, da die Menschen anfälliger für Infektionskrankheiten sind.
Für Länder wie Burundi bedeutet das, weit hinter ihrem wirtschaftlichen Potenzial zurückzubleiben. «Wir schätzen, dass Burundi bis zu 102 Millionen US-Dollar im Jahr verliert», sagt Ziauddin Hyder, Ernährungsspezialist der Weltbank. Das ist mehr als das Doppelte des Gesundheitsbudgets. Eine enorme Summe für ein Entwicklungsland, dessen Finanzhaushalt etwa zur Hälfte von Gebergeldern abhängt. «Die massiven ökonomischen Folgen sind ein Grund, entschieden zu handeln», so Hyder.
Mittlerweile wird Mangelernährung international als zentrales Entwicklungshemmnis betrachtet und auf höchster Ebene diskutiert. Beim letzten G-8-Gipfel hob US-Präsident Obama das Thema auf die Agenda; wenn die Regierungschefs der führenden Industriestaaten Anfang kommender Woche zusammenkommen, wollen sie wieder darüber diskutieren.
Viel Wirkung mit wenig Geld
Zu den wichtigsten Initiativen gehört «Scaling Up Nutrition», 2010 von den Vereinten Nationen, Regierungen, zivilgesellschaftlichen Gruppen, Unternehmen und Wissenschaftlern gegründet, um Länder wie Burundi zu unterstützen. Schon mit vergleichsweise geringen Investitionen könne kurzfristig viel erreicht werden, betont Weltbank-Ernährungsspezialist Hyder. Etwa durch gezielte Nahrungsergänzung, die Bereitstellung von Folsäure und Kalzium für Schwangere, Vitamin A und Zink für Kinder und regelmässige Wurmkuren.
Mittel- und langfristig aber brauche es strukturelle Veränderungen: Die Produktivität der Landwirtschaft muss erhöht und die Gesundheitsversorgung verbessert werden, die Menschen brauchen Zugang zu sauberem Wasser. Die Rolle der Frau in der Familie muss gestärkt werden. Mangelernährung ist ein komplexes Problem mit vielschichtigen Ursachen und Konsequenzen. Zentral sei deshalb ein multidimensionaler Ansatz, der über einzelne Ressorts hinausgehe, bekräftigt auch der Unicef-Repräsentant in Burundi, Johannes Wedenig. «Es geht nicht mehr, dass nur parallel gearbeitet wird, sondern es muss wirklich gemeinsam gearbeitet werden. Im Endeffekt muss alles bei der Familie zusammenkommen.»
Die Produktivität der Landwirtschaft muss erhöht und die Gesundheitsversorgung verbessert werden.
Burundi habe bei der Koordination der unterschiedlichen Ministerien bereits gute Fortschritte gemacht. Zudem ist die Kindersterblichkeit in den letzten Jahren drastisch gesunken und die Zahl der Einschulungen gestiegen. Doch um den Anteil chronisch mangelernährter Kinder wie angestrebt bis 2016 um 10 Prozentpunkte auf 48 Prozent zu senken, brauche das Land dringend weitere finanzielle Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. Ohne diese Hilfe sei sonst auch der mühsam errungene Frieden in Gefahr. «Die Menschen müssen jetzt die Friedensdividende spüren. Sie sind jetzt müde vom Krieg, momentan will keiner zurück, aber wenn sich die Situation nicht spürbar verbessert, dann ist das ein gewaltiger Konfliktherd», betont Wedenig.
Noch spürt Rosette Bizimana diese Friedensdividende nicht. Ihr Alltag hat sich kaum verändert. Jeden Tag schuftet die Mutter auf ihrem kleinen Feld, holt Wasser aus dem Fluss und sammelt Feuerholz, um ihrer Familie wenigstens ein mageres Abendessen kochen zu können. Ihr jüngstes Kind ist sechs Monate alt. Noch hat es die Chance, das Potenzial der ersten 1000 Tage seines Lebens voll auszuschöpfen.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 14.06.13