Jung, hochqualifiziert und desillusioniert

Ein Universitätsabschluss als Eintrittsbillett in die gehobene Mittelschicht – das war lange Zeit fester Bestandteil des amerikanischen Traums. Dieser ist längst geplatzt: Heute finden viele Akademiker keine feste Stelle mehr.

Ein Universitätsabschluss als Eintrittsbillett in die gehobene Mittelschicht – das war lange Zeit fester Bestandteil des amerikanischen Traums. Dieser ist längst geplatzt: Heute finden viele Akademiker keine feste Stelle mehr.

Die am letzten Freitag veröffentlichten Arbeitsmarktdaten der USA deuten darauf hin, dass die langersehnte Erholung bald eintreffen könnte. Die Arbeitslosenquote von 8,6 Prozent ist zwar immer noch weit über dem historischen Durchschnitt, aber so tief wie seit März 2009 nicht mehr.

Doch selbst wenn diese Verbesserung der Arbeitslosenquote mehr als ein Strohfeuer sein sollte, wird es noch lange dauern, bis die ­Narben der Krise auf dem Arbeitsmarkt verheilt sind. Besonders für die «Class of the Great Recession» – also jene jungen Amerikaner, die während der ­Krisenjahren 2009 und 2010 ihren ­Uni-Abschluss machten – sind die Job­aussichten weiterhin schlecht.

Eine Studie der Rutgers University in New Jersey zeigt, dass die Krisenabgänger nicht nur länger brauchen, um einen Job zu finden, sondern auch bedeutend weniger verdienen als ihre Vorgänger. Laut der Studie kommen sechs Monate nach dem Abschluss immerhin 80 Prozent der Absolventen auf dem Arbeitsmarkt unter. Allerdings findet nur knapp die Hälfte eine Stelle, die auch ihrem Studium entspricht, und 40 Prozent treten Jobs an, die gar keinen Uni-Abschluss erfordern. Richard Vedder vom Center for College Affordability and Productivity schätzt, dass im Jahr 2008 17 Millionen College-Absolventen für ihre Jobs überqualifiziert und unterbezahlt waren.

Zurück ins «Hotel Mama»

Ein solcher Krisenabgänger ist Bill Warren. Der 25-Jährige hat an einem renommierten Liberal Arts College in North Carolina Religion und Literatur studiert und geglaubt, dass ihm sein Abschluss an einer Elite-Institution Türen bei namhaften Firmen öffnen würde. «Während der ganzen Zeit erzählen dir die Leute nur, wie hochklassig deine Ausbildung ist und wie sehr sich die Leute um uns reissen werden», sagt er, «es ist ein bisschen wie eine von der Realität abgekoppelte Blase.»

Als er im Sommer 2010 bei einer Arbeitslosigkeit von über zehn Prozent seinen Abschluss machte, wurden er und seine Kommilitonen von der Realität eingeholt. Was folgte, waren über 50 erfolglose Bewerbungen in allen erdenklichen Berufszweigen, Freiwilligenarbeit und unbezahlte Praktika, bei denen er für eine politische Organisa­tion Spenden eintreiben musste. Dass er schliesslich doch einen bezahlten Job fand, war dann eher Zufall: Weil es seiner Firma rechtlich nicht erlaubt war, Praktikanten Geldtransaktionen vornehmen zu lassen, musste sie ihn notgedrungen einstellen.

Dieser Vertrag hielt aber nur wenige Monate, weil die Demokratische Partei, der Hauptkunde der Firma, bei den Wahlen im November 2010 massiv Sitze verlor und sein gesamtes Team entlassen wurde, sodass er sich zum zweiten Mal innerhalb von sechs Monaten in der Arbeitslosigkeit wiederfand. Nach einem weiteren unbezahlten Praktikum bekam er schliesslich im letzten Februar eine Stelle als Rechtsassistent in einer Washingtoner Kanzlei, womit es ihm um einiges besser erging als vielen seiner Kollegen.

Von seinen Freunden arbeiten einige in kleinen Shops in ihren Heimatstädten und sind zurück zu ihren Eltern gezogen, um die Zeit bis zur ersten richtigen Stelle zu überbrücken. Damit sind sie nicht allein: Rund 15 Prozent der 25- bis 34-jährigen Amerikaner leben bei ihren Eltern. «Alle denken, sie seien talentiert und dies werde sich nach dem Studium auszahlen», sagt Uni-Abgänger Bill War­ren. «Aber nach dem Studium merkst du auf einmal, dass Hunderte andere auch talentiert sind und auch hart arbeiten – und alle bewerben sich für die gleichen Jobs.»

Studiengebühren steigen markant

Die Lage auf dem Arbeitsmarkt sei tatsächlich sehr schwierig für College-Absolventen, bestätigt Adam Looney von der Washingtoner Denkfabrik Brookings Institution und ehemaliger ökonomischer Berater von Präsident Barack Obama. Noch nie war es für Uni-Abgänger so schwer, einen Job zu finden. Dennoch ist ein College-Abschluss heute wertvoller als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in den vergangenen 50 Jahren. Dies hat vor allem damit zu tun, dass die Situation auf dem Arbeitsmarkt für junge Leute ohne Uni-Abschluss noch viel schlimmer ist. Looney und seine Kollegen haben ausgerechnet, dass unter den heute 24-Jährigen ohne College-Abschluss nur 64 Prozent eine Stelle haben, verglichen mit 88 Prozent bei den Uni-Absolventen.

Während die Jobchancen sinken, steigen die Studiengebühren und Bildungsausgaben immer weiter an. Amerikanische Privathaushalte gaben im Jahr 2009 461 Milliarden Dollar für Studiengebühren aus. Das entspricht etwa 3,3 Prozent des US-Bruttosozialprodukts oder dem BIP von Ländern wie Schweden, rechnet Richard Vedder vor. Die durchschnittliche öffentliche Universitätsausbildung kostet 17 000 Dollar pro Jahr, an einer Privatuniversität, die noch weitaus teurer sind, kommen für eine vierjährige Ausbildung bis zu 100 000 Dollar zusammen. Im Durchschnitt haben College-Absolventen zum Zeitpunkt ihres Abschlusses 24 000 Dollar Schulden.

Die immer grössere Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit eines Uni-Abschlusses stellt auch die Politik vor Herausforderungen. Seit Jahrzehnten wird ein Studium als Garantie für den Zugang zur gehobenen Mittelschicht propagiert. Andere, nicht uni­versi­täre Ausbildungswege dagegen werden vernachlässigt. Durch die Bereitstellung von Garantien für Studienkredite ist der Staat massgeblich dafür verantwortlich, dass Unis ihre Gebühren immer weiter erhöhen und keine Anreize für Kostensenkungen haben.

Die Schuldenlast von Uni-Abgängern ist ein wichtiger Mobilisierungsgrund der Occupy-Bewegung. Inzwischen hat auch Präsident Obama gemerkt, dass er es sich nicht leisten kann, die desillusionierten Studierenden, die einen wichtigen Teil seiner Wählerschaft darstellen, weiter zu belasten. Er hat deshalb vorgeschlagen, gesetzlich festzuschreiben, dass Rückzahlungen von Studienkrediten zehn Prozent des Einkommens nicht übersteigen dürfen. Nach Angaben des Weissen Hauses würde dieses Gesetz die Schuldenlast von 1,6 Millionen Studienabgängern reduzieren.

Riesige Schuldenberge

Letztlich, meint Adam Looney, seien die Einflussmöglich­keiten der Regierung jedoch beschränkt. «In allererster Linie ist die heutige Situation ein Resultat des schwachen Arbeitsmarkts. Alles, was die Regierung tun kann, um Arbeitsplätze zu schaffen, wird den College-Abgängern zugute kommen.» Er sei dennoch davon überzeugt, dass es nach wie vor keine bessere Investitionsmöglichkeit für junge Leute gebe als eine Universitätsausbildung. Er und seine Kollegen bei der Brookings Institution rechnen vor, dass die Rendite auf eine Bildungsinvestition im Verlaufe eines Berufslebens 15 Prozent beträgt und damit andere Möglichkeiten, inklusive Aktien, übertrumpft.

Ob diese Zahlen, die auf Berechnungen der vergangenen 50 Jahre be­ruhen, heutigen Studierenden und Ab­sol­ven­ten mit ihren riesigen Schul­denbergen und trüben Aussichten helfen, ist fraglich. Bill Warren übrigens wird ab kommendem Jahr nochmals für mehrere Semester zur Universität gehen. Er will nun Anwalt werden – einer der letzten Berufe, die ungebrochen nachgefragt werden. So wird es ihm zumindest gesagt.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 09/12/11

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