Poulet war noch nie so beliebt – und billig. Eine schädliche Entwicklung. Um die Probleme des Fleischkonsums zu lösen, müssten die Preise steigen.
Gäbe es die Schweizer Verfassung als Hörspiel, sie würde sich kurios anhören. An manchen Stellen hört man den Muezzin vom Minarett rufen – aber andernorts gackert es auch ganz wild. Denn auch das Huhn hat seine durch die Verfassung verbrieften Rechte. Diese bescheiden dem Flattervieh nicht weniger, als dass seiner Würde als Kreatur Rechnung zu tragen ist. Daraus hat sich eines der weltweit strengsten Tierschutzgesetze abgeleitet. Und doch würden wir, täte das Huhn um eine juristische Einschätzung ersuchen, den Gang zum Bundesgericht empfehlen.
Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass es als Zuchtbibbeli in einer grossen Schachtel verpackt aus Deutschland in einen Schweizer Mastbetrieb geliefert kam, wo es mit 5000 bis 12 000 Artgenossen als Hochleistungsrasse mit reduziertem Sättigungsgefühl um sein Leben frisst. Scharrt der Kollege rechterseits nicht mehr schön, wird die ganze Truppe mit Antibiotika zugeschüttet, die in der Schweiz nicht seltener zum Einsatz kommen als in der EU – schärferes Tierschutzgesetz hin oder her.
Wenn unser Huhn, nennen wir es nach dem Werbehuhn der Migros Chocolate, 38 Tage lang Körner gepickt hat, ist es zwei Kilogramm schwer und am Ende seiner Karriere angelangt. Sein Körper ist dann so massig, dass es kaum mehr gehen kann. Was aber keine Rolle mehr spielt, da es nun reif für die Kiste und den Abtransport in den Schlachthof ist. Ein Stromschlag im Wasserbad ist das letzte Empfinden des Schweizer Bodybuilder-Huhns. Kopfüber wird es darin eingetaucht, bevor ihm eine Schlachtmaschine finalissimo den Kopf abtrennt.
Zunehmend Lust auf Poulet
Man muss kein Hühnerflüsterer sein, um zu erkennen, dass nicht mehr viel Würdevolles einem solchen Leben anhaftet. Ein Blick in die Statistik verrät: Chocolates schwere Jugend ist kein Einzelfall. Während der Fleischkonsum der Schweizer in den letzten 25 Jahren deutlich abgenommen hat, erfreut sich Pouletfleisch wachsender Beliebtheit. Alleine in den letzten fünf Jahren ist der Konsum von 8,5 Kilogramm pro Person jährlich auf über 11 Kilo angestiegen.
Auf kaum einer Speisekarte fehlt die garnierte Pouletbrust, angepriesen als sogenannter Fitnessteller. Oft ist sie undeklarierter Herkunft. Im Zuge des Gesundheitswahns der letzten Jahre erhielt das Geflügelfleisch, das bis in die 1960er-Jahre kaum produziert wurde in der Schweiz, plötzlich den Ruf als hüftschonende Alternative zu fettreichem Schwein oder Rind. Bei Schweizer Frauen ist weisses Fleisch nicht ohne Grund die bevorzugte Wahl.
Die Schweiz steht auf Chocolate – aber nur, wenn sie billig zu haben ist. Lässt sie sich ihr Leben etwas kosten, bleibt sie im Regal liegen. In keinem anderen Bereich der Biofleischherstellung läuft es so harzig wie beim Geflügel. Obwohl Bio-Landwirtschaft mittlerweile ein Milliardengeschäft ist in der Schweiz, ist das Angebot an Bio-Poulets überschaubar. Es ist noch immer ein Akt der Überzeugung, auf artgerechte Haltung zu setzen.
Es geht auch anders
Esther Baumann ist so eine Bäuerin, die nach Prinzipien und nicht nach Rendite arbeitet. Im aargauischen Niederwil betreibt sie mit Lebenspartner Lukas Vock den Wendelinhof. Von Gänsen über Hühner bis zu Rindern zieht sie alle Tiere nach den strengs-ten zertifizierten Kriterien in der Schweiz auf. Die Hühner leben in mobilen Ställen auf der Weide, die ein Stück verschoben werden, wenn das Gras abgefressen ist. Statt 10 000 Tiere in einer Gruppe sind es nur 400. Die Mastzeit ist doppelt so lang, auf den Einsatz von Antibiotika verzichtet sie ganz. Zum Schluss landen die Tiere in der hofeigenen Schlachterei.
Baumann sagt, sie verdiene nichts mit dem Poulet: «Wir kommen gerade so raus.» Warum setzt sie dann auf die aufwendige Mast? «Ich war einmal in einem konventionellen Betrieb. Es war ein Schock. So etwas wäre für mich unvorstellbar. Aber ich glaube an das Potenzial von Bio-Poulet.» Mut macht die Hofgeschichte: Der Vater von Lukas Vock gilt als einer der Bio-Pioniere in der Schweiz. «Als er 1986 gestartet ist, wurde er im Dorf als Spinner verschrien.» Mittlerweile lässt sich mit Bio-Produkten gutes Geld verdienen, zudem auch mehr Direktzahlungen erhält, wer besonders tierfreundlich produziert. «In den letzten vier, fünf Jahren ist die Nachfrage stark gestiegen», sagt Baumann.
Der Wendelinhof beliefert den Globus in Basel sowie die Manor mit seinem Pouletfleisch, doch ein wichtiger Einkommenszweig bleibt der Hofverkauf. Wer sieht, wie die Tiere gehalten werden, kauft gerne Fleisch – und kommt auch wieder. Chancenlos sei die Lage in der Gastronomie, wo auf billiges Fleisch gesetzt werde. «Der Preis ist unser Hauptproblem», sagt Baumann. Ein Wendelin-Poulet kostet doppelt so viel wie ein konventionelles. Die Verkäufer schlagen dann noch 100 Prozent des Einkaufspreises drauf. Würde kostet Geld.
Höherer Preis für Wertvolles
Auch der Basler Tierethiker Andreas Brenner sieht im Preis die Ursache der Probleme, die mit dem Fleischkonsum einhergehen. Er wünscht sich aber nicht tiefere – sondern höhere Preise: «Was wir essen, ist von unschätzbarem Wert. Der Preis müsste zumindest spürbar sein, denn das Wertvolle hütet und bewahrt man.» Mit einer Preiserhöhung würde auch dem Konsumenten die Entscheidung abgenommen, bewusst weniger Fleisch zu essen.
Wäre Fleisch teurer, wieder ein Faktor im Haushaltsbudget, würde auch eine Entwicklung zumindest verlangsamt, die Brenner für verheerend hält: die Industrialisierung der Landwirtschaft. «Es beginnt mit der Sprache. Wir sprechen von Lebensmitteln, doch das Wort Leben nehmen wir gar nicht wahr. Oder von Fleischproduktion und denken dabei in Produktionsketten wie bei Autos oder Computern.»
Das Ziel der industrialisierten Landwirtschaft in Europa war es, den Hunger zu verbannen. Das wurde grossmehrheitlich erreicht. Später wurde es zum Massstab des Wohlstands einer Gesellschaft, wie viel und regelmässig sie Fleisch konsumiert. Doch auch über diesen Punkt ist zumindest die Schweiz hinaus.Der Fleischverbrauch ist seit Ende der 1980er-Jahre rückläufig. Also fordert Brenner einen Rückbau der Landwirtschaft. Weg von der zentralisierten Massenproduktion, hin zu regionalen Märkten. Weg vom Fleisch als immer verfügbare Ressource, hin zum Fleisch als seltenes, kostbares Geschenk.
Jedes zweite Huhn kommt aus dem Ausland
Doch gerade beim Poulet ist auch in der Schweiz kein Fortschritt in diese Richtung festzustellen. Nicht nur wegen des steigenden Konsums: So geben zwar 85 Prozent der Schweizer an, beim Kauf von Fleisch inländische Produkte meistens oder immer zu bevorzugen – trotzdem stammt jedes zweite verzehrte Poulet aus dem Ausland, wie Brasilien oder China, wo die Tiere unter widrigsten Umständen aufwachsen.
Wie lässt sich erklären, dass für das Huhn nicht gilt, was beim Kalb mit 97 Prozent Inlandanteil diskussionslos in die Kaufgewohnheiten übergegangen ist? Brenner glaubt, es gibt eine Hierarchie: «Den Tieren, von denen wir denken, dass sie uns näher stehen, begegnen wir mit grösserer Empathie.» Während man sich Rinder auf satten Bergweiden wünscht, fehlen beim Huhn konkrete Vorstellungen.
Dank fehlendem Bewusstsein der Konsumenten lässt sich viel Geld verdienen. Zumal aus volkswirtschaftlicher Sicht das Huhn interessanter ist als andere Nutztiere: Es wandelt 1,8 Kilogramm Kraftfutter in 1 Kilo Gewicht um – ökonomische Traumwerte. Und es lässt sich in riesigen Einheiten halten, was auch bei sinkenden Margen Rendite verspricht.
So ist das Poulet auch der Renner auf dem Weltmarkt. Der globale Fleischkonsum hat sich zwischen 1990 und 2010 verdoppelt. Vor allem Hühnchenfleisch wird immer beliebter. Damit steigt auch die Nachfrage nach Futtermitteln. Für Hühner besonders geeignet ist eiweissreiches Soja, das wiederum in umweltschädlichen Monokulturen in immer grös-seren Plantagen angebaut wird. Die globale Nahrungsmittelindustrie produziert mit Volldampf und sie behindert indirekt alle Bemühungen, in eine andere Richtung zu gehen. Wendelinhof-Bäuerin Baumann sagt, sie könne kaum mehr Bio-Soja zu vernünftigen Preisen kaufen. Ein Hof in Ungarn soll nun exklusiv anbauen und liefern.
Wäre aber allen gedient, wenn Bio-Geflügel konkurrenzfähig wäre und in den gewünschten Mengen verfügbar? Tierethiker und Vegetarier Brenner verneint: «Wir kaufen Bio, um unser moralisches Problem zu lösen. Aber auch ein Bio-Tier ist nicht in erster Linie für uns da, sondern für sich selber.»
Zumindest wäre die Schweiz der Erfüllung ihres Verfassungsauftrags ein Stück näher: dass ihren Tieren ein Leben in Würde zusteht.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 03.08.12