2012 war das UNO-Jahr der Genossenschaften. Im einzigen Land, das sich selbst offiziell Genossenschaft nennt, war davon kaum etwas zu spüren.
Ein Brief von der Versicherung Ende Oktober verheisst in der Regel nichts Gutes. Schon wieder eine Prämienrechnung?! Doch dann die Überraschung: «Unser Erfolg ist Ihr Vorteil», teilte Markus Hongler, der CEO der Mobiliar seinen «sehr geehrten Kunden» mit. Nicht weniger als 120 Millionen Franken würden an die Mobiliar-Versicherten zurückverteilt. Das ergebe etwa bei der MobiCar-Autoversicherung einen Prämiennachlass von 10 Prozent.
Der Grund für die erfreuliche Bescherung: «Die Mobiliar ist genossenschaftlich verankert», hält Hongler fest. Insgesamt dürften so in den letzten fünf Jahren über eine halbe Milliarde Franken an die über eine Million Versicherten der Mobiliar zurückgeflossen sein. Wäre der grösste Sachversicherer im Lande eine Aktiengesellschaft (AG), hätten irgendwelche Aktionäre, oder Neudeutsch «Shareholder», diese Summen leistungsfrei in ihre Taschen gesteckt.
Gewinn ist nicht die Maxime
Bei der Genossenschaft jedoch gilt: «Member-Value statt Shareholder-Value». Nicht Maximalgewinne für Investoren und Manager oder der Börsenkurs sind hier die Leitlinie, sondern «die nachhaltige Leistung den Genossenschaftern gegenüber». Urs Berger arbeitete jahrelang bei Aktiengesellschaften, bevor er im Mai 2011 Verwaltungsratspräsident der Mobiliar wurde. Jetzt hält er gegenüber dem «Bund» fest: «Für die Versicherungsbranche ist eine gut kapitalisierte Genossenschaft die beste Organisationsform – ohne Wenn und Aber.»
Mehr als 9000 Genossenschaften gibt es in der Schweiz. Davon sind 28 Prozent Wohnbaugenossenschaften. Die grössten und bekanntesten Schweizer Genossenschaften jedoch sind die Grossverteiler Migros und Coop. Sie bilden im Detailhandel seit Jahrzehnten ein erfolgreiches Duopol.
Viele kleinere Läden sind ebenfalls genossenschaftlich organisiert. Und neuerdings macht den beiden Grossen die Fenaco als veritabler Grossverteiler Konkurrenz mit ihren Landi-Läden. Diese ehemaligen «Land-wirtschaftlichen Genossenschaften» haben eine lange Tradition in den meisten Dörfern landauf, landab.
Vom Mittelalter in die Moderne
Der Genossenschaftsgedanke kommt ohnehin ursprünglich vom Land: Als Alpgenossenschaften und noch früher als Allmenden oder als Weg- und Wassergenossenschaften gehören sie seit dem Mittelalter zum Kulturgut unseres Landes (siehe «Ohne Genossenschaften keine eigenständige Schweiz»). Eine neuere erfolgreiche Gründung dieser Unternehmensform ist die Carsharing-Genossenschaft Mobility.
Eine andere ist die GLB in Langnau (BE): GLB heisst «Genossenschaft für Leistungsorientiertes Bauen». Die erfolgreiche Baufirma, die inzwischen über 500 Leute beschäftigt und mehr als 100 Millionen Franken Jahresumsatz macht, war von Bauern gegründet worden. Die Selbsthilfeorganisation, der 13’000 Genossenschafter angehören, nutzte und nutzt die Fähigkeiten der Bauherren zur Mitarbeit geschickt: Braucht ein Landwirt einen neuen Stall oder eine neue Jauchegrube, stellt ihm die GLB den Trax hinters Haus, zeigt ihm, wie er funktioniert, und dann macht der Bauer den Aushub gleich selber.
Neben diesen «SVP-Genossenschaften» haben in den Städten die «SP-Genossenschaften» eine ähnlich lange Tradition: sei es als Konsumorganisationen, wie Coop, die ältere Leute bis heute «Konsum» nennen, sei es als Baugenossenschaften. «Es gibt in unserem Lande die bäurischen und die proletarischen Genossenschaften», erklärt der Schaffhauser SP-Nationalrat und Wirtschaftsfachmann Hans-Jürg Fehr.
11 Prozent der Wirtschaftsleistung
So oder so ist diese Unternehmensform ein wichtiger Faktor: Nur schon die zehn grössten Genossenschaften der Schweiz erbringen 11 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung unseres Landes. Zusammen kommen sie auf über 60 Milliarden Franken Umsatz pro Jahr. Auch die drittgrösste Bank im Land ist eine Genossenschaft: die Raiffeisen-Gruppe mit ihren 1,7 Millionen Genossenschafterinnen und Genossenschaftern.
Alle diese Unternehmen, die teils zu den grössten Arbeitgebern der Schweiz zählen, haben schon verwirklicht, was die SP Schweiz zum Entsetzen schlecht informierter Wirtschaftsjournalisten Ende 2011 in ihr neues Programm schrieb: die Überwindung des Kapitalismus. Die Mi-gros ist dafür das beste Beispiel: 1925 als AG gegründet, wurde sie 1941 in eine erfolgreiche Genossenschaft umgewandelt.
Als abschreckendes umgekehrtes Beispiel nennen Fachleute heute die Swiss Life: Der grösste Lebensversicherer im Land war bis 1997 auch eine Genossenschaft. Dann wurde die damalige «Rentenanstalt» in eine AG umgewandelt. Mit fatalen Folgen: Vom Profitdenken getrieben, bereicherten sich Swiss-Life-Manager schamlos. Es kam zu Skandalen und Gerichtshändeln.
Das alles hätten die SP-Genossen jenen ebenso unbedarften wie lautstarken Kritikern entgegenhalten können, die sie nach ihrem Beschluss zur Überwindung des Kapitalismus mit Häme übergossen. Doch die Genossen blieben in der Defensive und begannen gar parteiinterne Streitereien über diesen Punkt im Parteiprogramm.
Von den Genossen vergessen
Dabei kennen die Genossenschaften noch ein weiteres öffentliches Ärgernis der letzten Jahre nicht: die Abzockerei durch freche Manager. So kassiert der CEO des Migros Genossenschaftsbundes Herbert Bolliger als Chef eines Konzerns mit 86’000 Beschäftigten und 25 Milliarden Jahresumsatz gerade mal 860’000 Franken Jahresgehalt. Boni gibts beim «orangen Riesen» keine. Bei Mobility verdienen die Manager rund 200’000 Franken im Jahr. Doch in der breiten Abzockerdebatte hat man diese positiven Beispiele kaum je gehört. Das räumen führende SP-Leute inzwischen ein.
Die Linke hat auch das «Jahr der Genossenschaften» weitgehend verschlafen, das die UNO weltweit für 2012 ausgerufen hatte. Höchstens einen Vorstoss von SP-Nationalrat Eric Nussbaumer (BL) findet man dazu. Es ist ein schwaches Postulat, das vom Bundesrat einen «Bericht über die Entwicklung und Bedeutung» der Genossenschaften im Land verlangt. Die Regierung des einzigen UNO-Landes, das sich offiziell Genossenschaft nennt, jedoch winkt ab. Das würde «kaum einen echten Mehrwert erbringen».
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 14.12.12