Zu viel Stress für die Gesellschaft

Der globalisierte Markt ist auf Dauer kein überlebensfähiges System, sagen Soziologen: Nur lokal verankerte Wirtschaftsformen hätten eine Zukunft. Sind das bloss nostalgische Träumereien?

Verlassene Fabriken, verlotterte Gebäude: In Griechenland gäbe es viel zu tun – doch das Land ist nicht mehr im Fokus der Investoren. (Bild: Reuters/Grigoris Samidis)

Der globalisierte Markt ist auf Dauer kein überlebensfähiges System, sagen Soziologen: Nur lokal verankerte Wirtschaftsformen hätten eine Zukunft. Sind das bloss nostalgische Träumereien?

Unterhalten sich Ökonomen über Wachstum, nehmen sie die immer­glei­chen Schlagwörter in den Mund: Mit «längst über­fälligen Strukturreformen» soll die «Wettbewerbsfähigkeit» wieder hergestellt und der «Standort» fürs glo­bale Kapital attraktiv gemacht werden.

Dieses Standardrezept für Wachstum wird mittlerweile nicht mehr nur empfohlen, son­dern auch von der EU, dem Internationalen Währungsfonds und der Orga­nisation für wirtschaftliche Zusammen­arbeit und Entwicklung (OECD) zwangsverordnet. Etwa in Irland, Portugal, Spanien und Italien. Oder gar von fremden Funktionären verabreicht, wie in Griechenland.

In einigen Fällen funktioniert es sogar halbwegs. Die Schweiz etwa lockt mit tiefen Steuern, gestylten Wohnungen und einem offenen Arbeitsmarkt Vermögende und Firmen an. Ob das auch dem Durchschnittsschweizer nützt, bleibt angesichts hoher Mieten, verstopfter Strassen und immer härterer Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt allerdings eine offene Frage.

Verlotterte Häuser und Bettler

Insgesamt ist die von der OECD seit 30 Jahren gepredigte Wachstumsdoktrin ein Flop. Seit der Liberalisierung der Kapitalmärkte in den 1970er-Jahren hat sich das Wachstum in den Industrieländern ständig verlangsamt. Im letzten Jahrzehnt wuchsen die Euro-Länder noch um 1,1 Prozent jährlich. Heute liegt das Brutto­inlandprodukt mehrheitlich noch immer unter dem Niveau von 2008. Kein Wunder: Standortwettbewerb bedeutet Kampf um das bisschen Nachfrage, das die Strukturreformen noch übrig lassen.

Das Beispiel Griechenlands zeigt das trefflich. Strukturreformen sollen dieses Land wettbewerbsfähig machen. Deshalb werden Löhne gestrichen, Sozialleistungen gekürzt, Gewerk­schaften geschwächt und Beamte ­entlassen. In der Tat ist der Importüberschuss um gut zwei BIP-Prozent gesunken. Gleichzeitig haben sich die Investitionen halbiert und der Konsum ging um 20 Prozent zurück. Die Reformen haben die Nachfrage aus dem System entfernt. In Griechenland, Spanien und Irland geschah dies schock­artig, in Deutschland läuft dieser Prozess schleichend, dafür schon seit 15 Jahren.

Das verschwundene Griechenland

Am Beispiel Griechenlands wird aber noch etwas anderes deutlich: Die Gucci- und Prada-Läden und der ganze Apparat, der die Luxusbedürfnisse einst geweckt und befriedigt hatte, sind tot. Dafür erreichen uns aus Athen Bilder, welche die wirklichen Bedürfnisse sichtbar machen: verlotterte Häuser, verlassene Firmen, schmutzige Strassen, bettelnde Menschen. In Griechenland wäre wahnsinnig viel zu tun. Doch das Land ist aus dem Anlageuniversum der Fondsmanager verschwunden.

Wie ein intelligentes System aussehen könnte, zeigt sich ansatzweise in den USA. Dort gibt es seit 1977 den Community Reinvestment Act (CRA) – ein Gesetz, das die Banken ermuntert, lokale Ersparnisse in wirtschaftlich zurückgebliebene Gebieten oder Stadtteile zu investieren. CRA-Kredite müssen Bedingungen erfüllen, und das wiederum hat ein ganzes Netz von Selbsthilfeorganisationen ins Leben gerufen.

Typischerweise läuft das so ab: Zunächst werden mit CRA-Geldern Häuser saniert. Das bringt hohe Renditen. 1000 Dollar für Wärmedämmung können schon im ersten kalten Winter 1000 Dollar Heizöl einsparen. Dann werden ganze Quartiere renoviert, was den Wert der Liegenschaften steigert. Weiter wird investiert in die lokale Lebensmittelproduktion und -verteilung, in Stadtgärten und kommunale Dienste. Das dafür nötige Personal wird lokal rekrutiert und ausgebildet – und man arbeitet mit modernster Technologie.

Global umständlich

Sind das bloss nostlagische Träumereien? Nicht, wenn man sich vor Augen hält, wie umständlich die globale Wirtschaft heute arbeitet. Etwa Nestlé: Beim Schweizer Nahrungsmittelmulti kommen pro 100 Franken Produktionskosten noch 60 Franken für Marketing und Vertrieb und 20 Franken für die Investoren dazu. Und auch von den Produktionskosten entfällt ein beträchtlicher Teil auf viel zu hohe Saläre, auf Transport, auf Kühlketten – lauter Kosten, die man sich bei einer lokalen Produktion sparen kann.

Der globale Markt ist ein extrem ineffizientes System: Er muss die Bedürfnisse, die er befriedigt, zuerst mühsam wecken; die produzierten Güter müssen über riesige Distanzen transportiert werden – und die erzielten Gewinne werden ungleich verteilt. In den USA geht inzwischen mehr als ein Fünftel der Markteinkommen an das reichste Prozent der Haushalte, und die reichsten zehnt Prozent der Gesellschaft kassieren fast die Hälfte aller Einkommen.

Aufblühen und untergehen

Die kanadische Soziologin und Urbanistik-Expertin Jane Jacobs hat in ihrem Buch «The Nature of Economies» die These vertreten, dass Öko­nomien nach genau denselben Regeln aufblühen und untergehen wie Öko­systeme. Das Erfolgsgeheimnis sind positive Rückkoppelungen, die einfliessende Energien möglichst lange im System kreisen lassen.

Die moderne Globalwirtschaft macht genau das Gegenteil: Erspar­nisse werden lokal ab- und vom globalen Finanzsystem aufgesaugt. Die lokalen Löhne fliessen in den 20 Kilometer von der Stadt entfernten Wal-Mart und von dort weiter zu den chinesischen Lieferanten … Ein solches System bringt auf Dauer zu viel Stress in die Gesellschaft – und ist aus evolutionärer Sicht nicht über­lebensfähig.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 16.03.12

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