Er hat die Groupies erfunden, dann Demut gelernt und sich am Schluss der Stadt verschrieben, die niemals schläft. Sieben legendäre Songs und Anekdoten zum 100. Geburtstag von Frank Sinatra.
Die Legende war längst grösser als er, als Frank Sinatra 1998 starb. Es war da schon 20, 30 Jahre her, seit er seine letzten guten Platten und ernstzunehmenden Filme gemacht hatte, aber sein Tod war dennoch, als ginge das 20. Jahrhundert zwei Jahre zu früh zu Ende, zumindest in den USA.
Abgesehen von Elvis hat keiner die amerikanische Unterhaltungsindustrie mehr geprägt als «Frankie Boy» und damit alles, was später Popkultur genannt wurde. Am 12. Dezember würde er 100 Jahre alt werden, und bereits stehen die neuen Gedenkalben zu «The Voice» rechtzeitig für Weihnachten in den Verkaufsregalen. Sinatras Karriere umfasst unzählige Anekdoten und Lieder, die zur Legende beigetragen haben – wir haben sieben ausgewählt.
1. «I’ll Never Smile Again» (1940)
Das Durchbruchslied, in mehrfacher Hinsicht. Sinatra stand damals noch im Diensten des Orchesters des Posaunisten Thomas Dorsey, und von ihm lernte der junge Frank, wie er atmen musste, damit er scheinbar viele Takte mit nur einem Atemzug durchhielt: Sein Bandchef hielt beim Posaunenspiel im Mundwinkel ein kleines Loch offen, durch das er während langen Sätzen kurz Luft holte. Gesanglich war Sinatra zu seinen Anfängen kaum mehr als gehobener technischer Durchschnitt, seine Improvisationsgabe und sein Ausdruck machten ihn jedoch bald zum Zugpferd der Thomas Dorsey Big Band. Sinatra kaufte sich aus dem Vertrag raus, läutete damit gleichzeitig das Ende der Big Bands ein: von nun an standen die Sänger, nicht mehr die Bandleader im Zentrum. Mit «I’ll Never Smile Again» ermöglichte Sinatra Dorsey immerhin noch einen gemeinsamen Nummer-eins-Hit. Die sanfte Jazzballade war, nebenbei, der erste Spitzenreiter in der Geschichte der kurz zuvor eingeführten US-Billboardcharts. Und dort war Sinatra bis vor acht Jahren jedes Jahr mit einem Song oder Album vertreten. Von 1940 bis 2007 – während 67 Jahren. Einer der vielen Rekorde des Rekordmannes.
2. «The House I Live In» (1945)
Während der Zweite Weltkrieg tobte, wurde Sinatra zum ersten Popstar der Geschichte. Er war Dauergast im Radio, damals noch das dominierende Massenmedium, und wo er auftrat, fielen die Mädchen, Jahre vor Elvis und den Beatles, ob seines zart phrasierenden Gesangs in Ohnmacht. Die Verehrung für Sinatra gründete jedoch tiefer, der Kurzfilm «The House I Live In» aus dem letzten Kriegsjahr illustriert das: Im Film tritt Sinatra nach einer Studioprobe nach draussen in die Gasse und hält eine Horde Buben davon ab, einen jüdischen Mitschüler zu verdreschen. Und zwar, in dem er sie daran erinnert, was dieses Land gross machte und den Krieg gegen die Diktaturen gewinnen liess: dass die USA «100 verschiedene Völker kennen, die auf 100 verschiedene Arten zu Gott beten – aber alle als Amerikaner.» Eine trotz des simplen Pathos noch immer rührende Szene, mit der Sinatra, selbst als Sohn italienischer Einwanderer in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, seinen Status als Vorzeigeamerikaner zementierte.
3. «In The Wee Small Hours» (1955)
Die Fünfzigerjahre schienen nicht sein Jahrzehnt zu werden. Er verlor kurzzeitig seine Stimme und noch vielmehr sein poliertes Image, als innert drei Jahren zwei Ehen zu Bruch gingen, seine erste TV-Show scheiterte, und seine Plattenfirma, die wenige Jahre zuvor noch prächtig an ihm verdiente, liess ihn fallen. Sein Comeback gelang durch Akte der Demut: Er holte sich 1953 für eine symbolische Gage eine Nebenrolle im Kriegsfilm «From Here To Eternity» (man sagt, ein paar ermunternde Worte von Sinatras Mafia-Connection an den Regisseur hätten dem Engagement nicht geschadet, ein Gerücht, das in Coppolas «The Godfather» genüsslich aufgenommen wurde) und wurde dafür mit dem Oscar ausgezeichnet. Zwei Jahre später blickte er mit dem Album «In The Wee Small Hours» melancholisch-reuevoll auf die im Licht der Öffentlichkeit gescheiterte Ehe mit Ava Gardner zurück. Mit einem Gesang, der auch den bigottesten Moralisten zu Seufzern rührte: Die balladeske Jazzplatte stellte nicht mehr den «Frankie Boy» heraus, der im Jahrzehnt zuvor die amerikanischen Wohnzimmer erobert hatte, sondern eine vernarbte Seele, die sich aus Jahren der Verirrung zurückmeldete.
4. The Rat Pack
Die Phase der Besinnlichkeit war schnell verflogen. Nachdem Sinatra in der zweiten Hälfte der 1950er wieder zurück auf den Gipfel der Showbranche kehrte, galt es zu feiern, und Sinatra konnte feiern. Mit einer losen Gruppe von Showbiz-Freunden, deren Kern neben Sinatra Dean Martin und Sammy Davis Jr. bildeten, wurde die Rat-Pack-Show der Strassenfeger in Las Vegas in den frühen Sechzigerjahren. Das Konzept war simpel: Ein paar männliche Showgrössen sangen gemeinsam die Lieder, die ihnen passten, und rissen dazu Herrenwitze. «Rat Pack» war nie ein offizieller Titel der Show, der Übername entstand aus der «Urformation», einer Trinkrunde, die Schauspieler Humphrey Bogart kurz vor seinem Tod 1957 begründete. Deren Gelage sollen so exzessiv gewesen sein, dass Lauren Bacall, Bogarts damalige Ehefrau, der Gruppe den wenig schmeichelhaften Namen verlieh, nachdem sie eines Nachts zurück ins Hotel torkelten. Der dröhnende Bubenwitz, gepaart mit den bedeutendsten Stimmen jener Epoche am Vorabend des Rock ’n‘ Roll, verlieh der Show anhaltenden Kultstatus, der sich problemlos weiter verwerten liess: 1960 erhielten die «Spiessgesellen» mit «Ocean’s Eleven» ihren eigenen Film (der 2001 mit einem nicht minder grossen Staraufgebot neu aufgelegt wurde. Edler Schnaps, schöne Frauen und nun auch noch ein feiner Casinoraub – es waren männliche Ursehnsüchte, die das «Rat Pack» ansprach.
5. «Sinatra At The Sands» (1966)
1966 war das Jahr, das Sinatras Comeback konsolidierte. Mit der Ballade «Strangers In The Night» kletterte er erstmals seit über zehn Jahren wieder an die Spitze der Charts, noch mehr aber verkörperte die Zusammenarbeit mit dem Count Basie Orchestra Sinatras zentrale Stellung in diesem von Rock ’n‘ Roll geprägten Jahrzehnt. Auf «Sinatra At The Sands», seinem ersten offiziellen Livealbum, lässt sich das fruchtbare Duett zwischen Sinatra am Mikrofon und Basie am Piano (und alle dirigiert von Quincy Jones) besonders unmittelbar erleben. Basies selbstbewusst auftretendes Orchester schien einen gut gelaunten Sinatra zu besonderen Höchstleistungen anzutreiben – während sein derber Humor, der in den Liedansagen aufblitzt, merklich aus einer anderen Zeit stammt, hat Sinatras einnehmender Gesang nichts an Glanz verloren. Phrasierung, Intonation und die quasi aus dem Handgelenk geschüttelten Improvisationen verdeutlichen, warum gerade die Jazzer Sinatra derart respektierten.
6. «My Way» (1969)
Zum Rock ’n‘ Roll hatte Sinatra ein zwiespältiges Verhältnis. Kein Wunder: Die Generation des Rock ’n‘ Roll, die schliesslich in «’68» mündete, rebellierte gegen das Amerika der Kriegsgeneration, zu der Sinatra gehörte. Die Lautstärke des Rock ’n‘ Roll beendete die Ära der Crooner, und Sinatra sah das kommen: Bereits 1957 missbilligte er diese neue Musik, die da anbrach, als «brutal, hässlich, degeneriert». Mit Elvis, dem King des Rock ’n‘ Roll, konnte es Sinatra dennoch gut: Er hiess den berühmten Konkurrenten öffentlich willkommen, als Presley aus seinem Armeedienst aus Deutschland zurückkehrte, und Elvis gab den Respekt mit seiner Interpretation von Sinatras Hit «My Way» zurück. Die Meriten für den Song gehören zwar anderen, geschrieben hatte ihn Paul Anka, der sich wiederum bei Claude François‘ «Comme d’habitude» [https://youtu.be/bMoY5rNBjwk] bediente, aber veredelt haben den Song die beiden grössten Figuren, die das amerikanische Showbiz je hervorgebracht hat. Kein Wunder bei diesen Zeilen: «Yes, there were times, I’m sure you knew / When I bit off more than I could chew / But through it all, when there was doubt / I ate it up and spit it out / I faced it all and I stood tall / And did it my way.» Es braucht eine ausserordentliche Karriere, um so was überzeugend singen zu können.
7. «New York, New York» (1978)
Ein Lovesong für die Stadt, die nie schläft – wer hätte das besser hinkriegen können als er. Sinatra ist in Sichtweite von Manhattan aufgewachsen, in New York spielte er, kaum erwachsen, seine ersten Konzerte, und auch wenn eher Las Vegas zum Epizentrum seiner Showkarriere wurde, blieb er der Metropole am Hudson stets verbunden. Als Martin Scorsese seine Hommage auf das Leben und die Musik von New York der Nachkriegszeit zu drehen begann, konnte kein anderer den Titelsong dazu singen als «The Voice». Scorseses Nostalgiewerk war nicht seine hellste Stunde, Sinatra hat «New York, New York» jedoch einen späten Hit beschert, den er bis zu seiner letzten Show nicht mehr aus seinem Programm nehmen sollte. «If I can make it there, I’m gonna make it anywhere», lautet das Versprechen, mit dem New York in seiner Geschichte bis heute Glücksritter aus aller Welt anzieht. Auch wenn die wenigsten es zu solcher Grösse bringen wie Sinatra. Als er am 14. Mai 1998 an den Folgen eines Herzinfarkts starb, wurde zu Ehren von «Ol‘ Blue Eyes» das Empire State Building in blaues Licht getaucht. Drei Tage lang.