Die neue Justizvollzugsanstalt Realta im bündnerischen Cazis wird auf dem Gelände eines Anstaltsfriedhofs aus dem 19. Jahrhundert gebaut. Die sterblichen Überreste von 103 Menschen werden identifiziert und wissenschaftlich untersucht.
Bei den Bestatteten handle es sich um Insassen der damaligen «Kantonalen Korrektionsanstalt Realta», die 1854 auf dem Gelände errichtet worden war. Der wissenschaftliche Wert des 700 Quadratmeter grossen Sonderfriedhofs sei hoch, teilte die Kantonsregierung am Montag auf eine parlamentarische Anfrage von SP-Grossrat Andri Perl mit.
Die archäologische Fundstelle ist laut Regierung einzigartig. Sie biete die einzigartige Möglichkeit, historische, archäologische und anthropologische Quellen zu einem wichtigen Kapitel der jüngeren Schweizer und Bündner Geschichte zu verknüpfen, dem frühen Anstaltswesen.
Der Archäologische Dienst initiierte und leitete die Ausgrabungen im Frühling und Sommer letzten Jahres. Geborgen wurden 103 gut erhaltene, sogenannte Körperbestattungen in einfachen Holzsärgen aus dem Zeitraum von etwa 1850 bis 1903.
Liederliche, Arbeitsscheue und Irre
Das gesellschaftliche Spektrum der Beerdigten ist breit. Es handelt sich um Frauen und Männer beider Konfessionen und unterschiedlichen Alters. Neben Menschen, die damals als «liederlich» oder «arbeitsscheu» kategorisiert wurden, finden sich auch solche, die als «Irre» bezeichnet wurden.
Bei den meisten handelt es sich um Personen, die nicht der damaligen moralischen Norm entsprachen, der Familie oder Gemeinde zur Last fielen oder nur schon zu fallen drohten. Sie wurden gegen ihren Willen in der Anstalt inhaftiert.
Da im Bündner Staatsarchiv die damaligen Anstaltsregister noch vorhanden sind, sind die Namen und Daten vieler Beerdigter bekannt. Archivarische, anthropologische und statistische Untersuchungen sollen die Identifizierung mindestens eines Teils der Toten ermöglichen und einen Einblick in den damaligen Anstaltsalltag ermöglichen.
Randständigen die Würde zurückgeben
Die individuelle Identifizierung ermögliche es, den am Rande oder ausserhalb der damaligen Gesellschaft stehenden Menschen ein Gesicht zu geben und «damit verbunden auch eine gewisse Würde», schreibt die Regierung. Die Exekutive unterstützt die Idee, eine schlichte Gedenkstätte zu errichten, um an die Bestatteten zu erinnern.
Alle sterblichen Überreste sind derzeit beim Archäologischen Dienst eingelagert. Sie werden mittelfristig in die geweihte und somit «würdige» Sammlung der Interkantonalen Arbeitsgemeinschaft für Anthropologie verschoben.
Auf den Neubau der geschlossenen Justizvollzugsanstalt hat die Ausgrabung weder finanzielle noch terminliche Auswirkungen. Bis Ende 2019 entsteht für 119 Millionen Franken ein Gefängnis für die Ostschweizer Kantone und den Kanton Zürich mit 152 Plätzen.