21 Minuten bis ins Paradies

In der Petite Camargue singen derzeit die Nachtigallen um die Wette. Doch das Naturschutzgebiet bietet noch viel mehr. Und es liegt nur ein paar Busminuten von Basel entfernt.

Die Petite Camargue zählt zu den schönsten Naturschutzgebieten der Region. Bald kommen zu den heute rund 900 Hektaren Land weitere 100 Hektaren dazu. (Bild: Stefan Bohrer)

In der Petite Camargue singen derzeit die Nachtigallen um die Wette. Doch das Naturschutzgebiet bietet noch viel mehr. Und es liegt nur ein paar Busminuten von Basel entfernt.

Trotz der langen Regen- und Kälteperiode: In der Petite Camargue Alsacienne hat der Frühling längst Einzug gehalten. Seit einigen Wochen liefern sich hier die Nachtigallen Nacht für Nacht regelrechte Sängerwettbewerbe.
«Es singen nur die unverpaarten Männchen», erklärt Anne Seltmann. Die Feldassistentin des Nachtigallen-Projekts der Petite Camargue ist dieser Tage jede Nacht unterwegs, um die Vögel in einem Kerngebiet von neun Quadratkilometern zu zählen und ihre Reviere auf Karten zu markieren.

26 männliche Exemplare der eher seltenen Art hat das Team rund um Forschungsleiter Valentin Amrhein diesen Frühling erfasst. Insgesamt bevölkern jedoch weit mehr Nach­tigallen die Petite ­Camargue. ­Seltmann schätzt, dass es auf einer ­er­weiterten Fläche von ­18 Quadrat­kilometern rund 200 Vögel sind.

Das Naturschutzgebiet am nörd­lichen Rand von Saint-Louis ist bei den unscheinbaren braunen Zugvögeln, die in Ghana überwintern, beliebt: Sie mögen Büsche mit dichtem Unterholz, wie es sie in der Petite Camargue zur Genüge gibt. Weil die Nachtigallen ihren Revieren treu sind, kommen sie Jahr für Jahr zurück. Das sind ideale Voraussetzungen für die Forscher, welche die Nachtigallen in der Petite Camargue seit 1997 beringen und beobachten.

Nachtigallen kehren Jahr für Jahr ins gleiche Revier zurück.

Mit ihren nächtlichen musikalischen Hochleistungen verfolgen die Männchen ein einziges Ziel: ein Weibchen in ihr Revier zu locken. Dafür geben sie alles, singen in den höchsten Tönen, verzieren ihre Strophen mit Trillern und Jauchzern. Sobald ein Weibchen das Werben erhört hat, re­duzieren die Männchen ihre musika­lische Aktivität.

Das Nachtigallenmännchen mit der Kennzahl A15, ist noch nicht so weit. Auch in dieser kühlen Nacht Ende Mai trällert A15 unverdrossen von seinem Busch, vor dem Anne Seltmann nun Stellung bezogen hat. Sein Revier liegt an der Grenze des Naturschutzge­bietes, das Licht von Stras­senlaternen dringt ins Unterholz, ­gelegentlich sind die Geräusche vorbeifahrender Autos zu vernehmen.

«Vielleicht liegt es auch an seinem Revier, dass er noch kein Weibchen gefunden hat», sagt Seltmann. «Die Vögel mit Revieren weiter drinnen im Naturreservat haben jedenfalls bereits mit dem Singen aufgehört.»

Noch nicht alle unter der Haube

Die Nachtigallenforscher sind froh darüber, dass noch nicht alle Vogelmännchen unter der Haube sind. So bleibt ihnen mehr Zeit für die Tonexperimente. «Wir wollen herausfinden, wie Tiere auf Menschenstimmen reagieren und ob sie zwischen Männer- und Frauenstimmen unterscheiden können», erklärt Forschungsleiter Amrhein, der an der Uni Basel lehrt.

Auf die Idee kam der Biologe, nachdem ihm eine Studentin erzählt hatte, dass sich ihr Hund beim Klang von Männer- und Frauenstimmen unterschiedlich verhalten würde. Also spielte Amrhein den Vögeln Tonaufnahmen von singenden und sprechenden Männer- und Frauenstimmen vor und nahm gleichzeitig den Gesang der Vögel auf.

Gute Nachricht für Naturfreunde: Das Schutzgebiet wächst.

Die Aufnahmen werden derzeit ausgewertet, ebenso wie die Aufnahmen eines weiteren Experiments, das Aufschluss darüber geben soll, wie die Nachtigallen auf Motorenlärm rea­gie­ren. Anne Seltmann installiert zehn Meter von jenem Busch entfernt, auf der A15 mit seinem Konzert um die Gunst eines Weibchens buhlt, einen Lautsprecher. Dann ­startet die 25-Jährige den MP3-Player: Das Dröhnen eines Automotors mit ­einer Drehzahl von 1500 Umdrehungen pro Minute unterbricht die Stille. Nach dreiminütiger Verschnaufpause dröhnt der Motor mit 3000 Umdrehungen pro Minute in die Nacht hinein. Trotz des Lärms singt A15 unbeirrt weiter.

«Anhand der Forschungs­resultate werden wir analysieren können, inwiefern Autolärm die Tiere be­ein­flusst, ob sie eher durch hochtouriges oder durch niedertouriges Fahren gestört werden», sagt Seltmann. Unsere Erkenntnisse werden etwa in die Verkehrsplanung rund um Naturschutz­gebiete fliessen.

Gehört die Nacht in der Petite Camargue den Tieren, ist das seit 1982 unter Naturschutz stehende Auengebiet am Rheinkanal tagsüber ein beliebtes Naherholungsgebiet der Basler Bevölkerung. Schon bald kommt zu den heute gut 900 Hektaren eine ­Fläche von 100 Hektaren dazu. «Im ­September starten wir mit der Rena­turierung eines Gebiets, das bisher als Maisfeld genutzt wurde», erklärt Phi­lippe Knibiely, Direktor der Petite ­Camargue Alsacienne. Die vollstän­dige Renaturierung der Fläche auf der Rheininsel bei der Kembser Schleuse werde drei bis vier Jahre dauern und enthalte sowohl Wasser- wie auch Schilflandschaften sowie Sandbänke.

Tiere profitieren vom Ausbau

Ganz im Sinn des Naturschutzes soll die neu gewonnene Fläche vor allem den Tieren und Pflanzen zugute kommen: «Es ist nicht vorgesehen, dass das Gebiet bis ins Innere begehbar ist. Ein Gehweg wird jedoch um das Areal führen, so dass Tierbeobachtungen möglich sind», stellt Knibiely in Aussicht.

A15 hat sein Revier wieder für sich. Anne Seltmann hat ihre Geräte auf das Velo gepackt, mit dem sie ihre Kontrollrunden dreht, und verschwindet auf einem der schmalen Pfade, die in die Petite Camargue hineinführen. In der Dunkelheit sind jetzt nur noch zwei, drei weitere Nachtigallen zu ­hören. Kein leichtes Spiel für A15: Nachtigallenweibchen haben ein feines Musikgehör.

Neu fährt der Bus auch am Wochenende in die Petite Camargue
Die Petite ­Camargue ist von Basel aus bequem per Velo erreichbar (entlang des Canal de Huningue). Neu fährt der Bus 604 (ab Schifflände in Basel) auch samstags und sonntags die Haltestelle des Naturschutzgebiets an; die Fahrt dauert nur etwas mehr als 20 Minuten.Die ehemalige «Kaiserliche Fischzucht von Hüningen» ist das Herz des Naturschutzgebiets Petite Camargue Alsacienne, das von einem fran­zösischen Verein betrieben wird. An der Infostelle bei der Fischzucht sind wechselnde Themenausstellungen zu sehen, und es werden Füh­rungen angeboten. Neben dem Besucherangebot liegen die Schwerpunkte des Reservats in der Arbeit auf der Forschungsstation, die der Uni Basel angegliedert ist und deren ­Betrieb der schweizerische Trägerverein Association Suisse Pro Petite Camargue Alsacienne ermöglicht. Hier wird neben der Nachtigal­lenforschung auch Fischzucht betrieben. In Zusammenarbeit mit den Kantonen Basel-Stadt, Basel-Landschaft und Aargau werden die Lachse aus der Petite Camargue in der Birs und in der Ergolz freigelassen. Zudem sollen dieses Jahr zwölf Sumpfschildkröten aus der Zucht der Forschungsstation im Nordelsass für die Wiederansiedlung ihrer Art sorgen. Das Buch «Petite Camargue Alsacienne» ist an der Infostelle im alten Schleusenwärterhaus am Rheinkanal erhältlich.
www.petitecamarguealsacienne.com
www.camargue.unibas.ch

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 14.06.13

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