Die Zahl der Menschen auf der Erde hat die 7 Milliarden-Marke überschritten: Jetzt gilt es verstärkt, die natürlichen Ressourcen zu schonen.
Es gab eine Zeit, es ist um die 8000 Jahre her, da lebten auf der Erde weniger Menschen als heute im Stadtgebiet von London. Sechs Millionen Menschen, luftig verteilt auf die Kontinente und so fortpflanzungsfreudig, wie man es eben ist, wenn man ohne Unterlass auf Nahrungssuche ist – nämlich mässig. Doch dann wurde der Mensch sesshaft. Das war die Wende.
Am vergangenen Montag, kurz vor Mitternacht, kam es zu einer erneuten Wende: Die Ziffer auf den vielen online geschalteten Weltbevölkerungsuhren ist auf über 7 000 000 000 gesprungen. Sieben Milliarden Menschen. Gemessen daran, wie lange sich der Homo sapiens schon auf diesem Planeten herumtreibt, immerhin seit 160 000 Jahren, wirken ein paar Tausend Jahre für ein Wachstum der Weltbevölkerung auf das knapp 1200-fache gespenstisch kurz. Gemessen an dem, was die UNO für die folgenden Jahrzehnte prophezeit, erscheint es lächerlich lang: Noch vor Ende dieses Jahrhunderts sollen es zehn Milliarden Menschen sein.Ob es so kommt, ob nicht vorher ein «population peak» erreicht wird, auf den Entspannung folgt, oder ob sich das Wachstum sogar beschleunigt, ist umstritten. Offiziell fussen die Prognosen auf Daten, die man in Volkszählungen oder Zensusanalysen erhoben hat. Sie sind lückenhaft – gerade für Entwicklungsländer. Doch demografische Trends liessen sich auf dieser Basis bisher ziemlich zuverlässig ableiten.
Die Grenzen des Wachstums
Dennoch kritisierte der anerkannte Umweltjournalist Fred Pearce jüngst in der Zeitschrift «Nature», die Projektionen der UNO sähen «mehr nach politischem Konstrukt» aus als nach «wissenschaftlicher Analyse». Der Autor von «Peoplequake» weist auf die globale Geburtenrate hin, die sich binnen 50 Jahren halbiert habe. Bildung werde selbst in den ärmsten Ländern besser zugänglich, und Frauen sei zunehmend eine selbstbestimmte Familienplanung möglich. All das werde zu einer Entschleunigung des Wachstums führen. Gegensätzlicher Meinung ist der Chefdemograf des Population Reference Bureau in Washington: Carl Haub hält die UN-Projektionen für viel zu vorsichtig und die Lage für weit dramatischer als bisher beschrieben.
Nicht gerade leise schwang in den vergangenen Wochen bei der Vorankündigung des 7 000 000 000. Mitglieds der Völkergemeinschaft jenes Dilemma mit, das der anglikanische Pfarrer Thomas Malthus vor der Wende zum 19. Jahrhundert so beschrieb: Die Bevölkerung kann exponenziell wachsen und tut es in weiten Teilen der Welt auch. Die Nahrungsmittelproduktion aber ist nicht in der Lage, mit dieser Entwicklung Schritt zu halten. So weit ein scheinbar empirischer Befund, an dem bis heute kaum gerüttelt wird – sieht man davon ab, dass die Nahrung noch nicht so weit verknappt ist, als dass man die Menschen nicht zumindest theoretisch weltweit satt bekäme. Aber Malthus liess auch durchblicken, worin er die Lösung des Problems sah: Wer sich nicht ernähren könne, der sei «zu viel auf dieser Erde».
Es ist eine Logik, die schon immer dem Rassenhass und dem Genozid ein Fundament bereitet hat. Auch Jared Diamond argumentiert in seinem Werk über den Niedergang menschlicher Gesellschaften («Kollaps: Warum Gesellschaften überleben oder untergehen», 2005), dass der Völkermord an fast einer Million Ruandern, meist Tutsi, 1994 auch durch die dramatische Überbevölkerung im bis heute am dichtesten besiedelten Staat Afrikas begründet war. Die Idee von Malthus wurde damals von Tätern wie Opfern offen formuliert: Die Knappheit bot nicht genug für alle. Die Lösung hiess, die Bevölkerung zu «dezimieren».Diamonds Buch wird gern zitiert, um die verheerenden Folgen extremen Bevölkerungsdrucks zu belegen. Der Evolutionsbiologe meint dabei keineswegs, dass Wachstum in den Kollaps münden muss. Eines aber sei klar: Bevölkerungsprobleme, die durch nicht nachhaltige Ausbeutung von Ressourcen entstehen, laufen auf eine Krise hinaus. Wie sie gelöst werde, obliege der Entscheidung des Menschen. Malthus glaubte an die durch die «Natur» bestimmte und deshalb gerechtfertigte Auslöschung als logische Konsequenz.Man möchte gar nicht wissen, wer diese Auffassung heute noch teilt. Diamond und viele andere glauben dagegen an eine friedliche, ressourcenschonende Lösung. Und es ist eine beglückende Erkenntnis, dass die düsteren Regulationsideen des anglikanischen Pfarrers von der Realität auch widerlegt werden: im Machakos-Reservat etwa, einem von Dürre geprägten Distrikt Kenyas, der einst Teil der britischen Kolonie war. Damals folgte den mitgebrachten Nutzpflanzen, der medizinischen Versorgung und den Bildungsmöglichkeiten schnell eine Verdopplung der Einwohnerzahl. Als sie 1937 auf 250 000 wuchs, rappo rtierte ein britischer Bürokrat, die «Wohltätigkeit» des Empire habe eine «explosive Vermehrung» der Einwohner befördert, die ökologischen Folgen seien verheerend.
Mehr Menschen – mehr Glück
74 Jahre später leben mehr als 1,5 Millionen Menschen in Machakos, das heute grüner ist und in dem es den Menschen besser geht als je zuvor. Das alles in einem Land, in dem jede Frau im Mittel fünf Kinder zur Welt bringt – doppelt so viele wie im globalen Durchschnitt und genau so viele wie in Ruanda. Aber in Machakos fand man einen gewaltfreien Lösungsweg. Forscher wie Ester Boserup haben aus solchen Beispielen schon früh hoffnungsvolle Schlüsse gezogen: 1965 kam die dänische Ökonomin in einer vielbeachteten Studie zu dem Ergebnis, dass ein starkes Bevölkerungswachstum anstelle von Hunger und Krieg auch das Gegenteil bewirken könne, weil mehr Menschen nicht nur mehr hungrige Menschen bedeuteten, sondern auch mehr Arme und Beine, die arbeiten – und mehr Köpfe, die denken. Diese «Intensivierung» sei eine Option des Wachstums. Sie muss nur erkannt und genutzt werden
Doch wie stark die Bevölkerung auch wachsen wird, und egal, für welche friedlichen Lösungen man sich entscheidet: Einige Notwendigkeiten stehen fest. Etwa, dass sich der westliche Lebensstil des Immermehr nicht aufrechterhalten lässt: Würden aufstrebende Staaten wie China oder Indien gleich viel Energie verbrauchen wie die Industriestaaten des Westens, wäre dies ein Desaster für unseren Planeten. Auch Diamond weist immer wieder auf sie hin: Klimaschutz, Ressourcenschonung und die Bereitschaft zur gemeinsamen Anpassung an neue Situationen. Überoptimistische Szenarien dagegen im Sinne eines «Weiter-wie-bisher», die jeden Ressourcenmangel ausblenden und etwa auf die grossen Ölreserven in der Tiefsee vor Brasilien hinweisen oder darauf, dass neue Technologien schon neue Ressourcen erschliessen werden, verbieten sich genau so wie düstere Visionen einer Überfüllungsapokalypse.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 04/11/11